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XII
Jeder Mensch kann in sich vollendet sein; es gibt in der Menschheit
die verschiedensten Grade der Vollendungsmöglichkeit. Und
das Ideal ist: jeder soll den ihm gesetzten Grad der Selbstverwirklichung
zu erreichen suchen, „seine Möglichkeit vollkomm-
men verwirklichen" (a. a. 0. S. 148). Es kann also der gewöhnliche
Handarbeiter in sich genau so vollendet sein wie der größte
Gelehrte. Was du bist, sei es ganz!
Hier wird der Begriff des Absoluten in eine neue Beleuchtung
gerückt. Die spirituellen Werte wie Wahrheit Schönheit und
Güte gelten als absolut, d. h. sie sind Ideen von äußerster Erfüllung
gegebener Möglichkeiten. Erfüllt nun ein Mensch seine
Möglichkeiten, so werden in ihm absolute Werte sichtbar: Verwirklichung
physischer Möglichkeiten bedeutet Schönheit, geistig-
intellektuelles Vollendetsein ist Wahrheit, mensehHöh-tsittliche
Vollkommenheit ist Güte (a. a. 0. S. 149).
So allein ist das Geistige zu fassen: als etwas Innerliches, als
„Sinn" in der metaphysischen Bedeutung des Wortes, viel tiefer
liegend als der empirische Sinn, mit dem es jede Wissenschaft
— und auch der Okkultismus — zu tun hat. „Der Sinn ist letzthin
der Schöpfer aller Erscheinung . . . Wer sich selbst ganz versteht
, hat damit Zutritt gewonnen zum Sinn aller Dinge" (Philosophie
als Kumst, S. 281).
Wie aber gelangt man dazu, den Sinn seines eigenen Wesens
zu erkennen? — Denn, das ist ja das ungeheuer Wichtige, wenn
iah meinen mir zugrunde liegenden Sinn kenne, dann habe ich
ja mein Schicksal in der Hand und kann mein Glück schmieden,
wie es sein soll. — Nun, das Mittel dazu bietet die oben beschriebene
Konzentration und Meditation. Aber nicht mehr ist
Steigerung, Verbreiterung, Streben nach außen hin das Ziel, sondern
Verinnerlichung, Vertiefung, Durchdringung der Erscheinung
bis zum metaphysischen Kern. Mit ganzer Seele, nicht bloß
mit dem Verstände, sich in sich selbst versenken, jeden Gedanken
, jede Gefühls- und jede Willensregung prüfen, ob sie dem
Sinn gemäß ist, restlos wahrhaftig sein gegen sich selbst, das
muß zum Sinn und damit zur Selbstvollendung führen. Die Tatsache
hingegen, daß Okkultisten „in der Regel menschlich minderwertig
" sind (Reisetagebueh S. 143), liefert den Beweis* daß
man nicht Okkultist zu sein braucht, um »ein vpllendeter Mensch
zu werden. Die größten Menschen, die wir kennen, waren keime
Okkultisten.*) Daimit ist nicht {gesagt, daß ein Mensch mit großer
okkultistischer Begabung an sich nicht vollendet werden könne,
aber die okkultistische Schulung erweitert eben das Seelenleben
derartig, daß es fraglich ist, ob all das neu Erworbene vom Sinn
afujs wirklich beseelt wird. Darum meint Graf Keyserling,, daß
der Okkultismus nicht den Weg zur Spixitualisierung biete, vielmehr
sei das Umgekehrte der Fall: mit dem Streben nach Volk
*) Und Goethe ? — Schriftl.
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