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466 Psychische Studien; XLVIII. Jahrg. 9- Heft (Septemiber 192-1.)
ich mich, kaum bekleidet, vund mich an den Wänden, um nicht
niederzufallen, festhaltend, in das Zimmer meiner Tochter stürzte,
indem ich ihr zurief: Ich weiß nicht, was mir ist, ich ersticke!"
Alsdann durch den gütigen Zuspruch meiner Tochter ein wenig
beruhigt, sagte ich: „Mein Gott, Rene hat ein großes Unglück betroffen
!k< Und in der Tat, zwei Tage später, am 4. September,
teilte mir der Kommandant Duseigneur, der Befehlshaber der
Luftsohifferabteilung 57, mit, daß mein geliebten Sohn, Fliegerpilot
, in einem Luftkaimpf über Verdun innerhalb der deutschen
Linien verschwunden sei, und zwar genau an dem Tag und zu
der Stunde, an der mich jene Angst überfallen hatte.
Erst nach dem Waffenstillstand ließen anich die Deutschen
wissen, daß mein Sohn innerhalb ihrer Linien am 2. September
zu Dieppe bei Verdun abgestürzt und daß er auf dem
Soldatenkirchhof zu Dieppe, Grab Nr. 56, beerdigt worden sei.
Wir machten vier Reisen und stellten unzählige Nachforschungen
auf jenem Kirchhof »an, wo sich nui* zwei französische, isonst nur
deutsche Gräber befanden, ohne etwas zu finden. Der Friedhof
war durch Bomben zerstört »und die meisten Kreuze waren zertrümmert
. Da wir einsahen, daß wir so die Reste unsenes teuren
Kindes nicht auffinden konnten, wandten wir uns an den Offizier
der Abteilung, welche mit der Leichenausgrabung betraut war. damit
er uns von dem Tage benachrichtige, an den) man diesen
Friedhof entleerte. Wir waren ihm von -mehreren hochgestellten
Personen empfohlen, und mein Mann schrieb ihm alle Augenblicke
, damit er uns nicht vergäße. Das geschah letztes Frühjahr.
Am 25. Mai, 8lA Uhr, überfiel mich eine schreckliche Traurigkeit
, ich war noch weit trauriger als gewöhnlich, ohne Grund, und
um diesa tiefe Traurigkeit abzuschütteln, setzte ich mich ans
Fenster und richtete meine Augen auf die Riberastraße, die geradeaus
verläuft. Dort sieht man Bäume und etwas blasen Himmel
. Plötzlich sehe ich dort in einer Baumgruppe die Erscheinung
meines Rene, meines Sohnes! Sein hübsches
Gesicht war bleich und traurig. Er war wie eingefaßt in einen
großen Rahmen; zu seiner Seite, der eine rechts, der andere
links, befanden sich zwei junge Leute, die ich nicht kannte und
nie gesehen hatte. Erschreckt diitrch diese Vision, verlasse ich
das Fenster, nehme meinen Kopf zwischen beide Hände und frage
mich, ob ich toll würde. So mache ich einige Schratte durchs
Zimmer und kehre dann zum Fenster zurück. Die Erscheinung
war noch da. Es gibt gar keinen Zweifel; es ist Rene. Er hält
den Kopf nach links, wie sieine Gewohnheit. Aber wer können
die beiden jungen Leute sein? Der zur rechten scheint ein
Russe zsui sein, der zur linken ein Deutscher. Aber akdann?
Mein Sohn ist nicht tot, er muß irgendwo gefangen sein. Bestürzt
durch den Schrecken, verlaisse ich aufs neue das Fenster
und eile, meinen Mann zu benachrichtigen; aber an der Türe
seines Zimmern angelangt, besinne ich mich und sage zu mir:
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