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468 Psychische Studien; XLVIII. Jahrg. 9. Heft. (Septeni'ber 1921.)
daß man dort gewiß nicht naohgecimcht haben würde. Wir stießen
auf eine Flugzeugbrille. Ich faßte Hoffnung. Zweifelsohne lag
hier ein Luftsohiffer begraben. Man gräbt wteiter. Nichts, absolut
nichts. Endlich nimmt ein kleiner, recht intelligenter Soldat den
Plan zur Hand und geht 'danach giündlich vor. Wir stoßen auf
diese Weise anf einen leeren Graben, in dem wir ein großes
Stück Pelz finden, das ich wiedererkenne, Handschuhe, Fetzen
eines Gurtes von violetter Seide--kein Schatten von Zweifel
mehr, mein Sohn hat hier gelegen. „Wo haben Sie ihn hingebracht
?" —- Auf den deutschen Friedhof unter der Bezeichnung
„Unbekannt" und unter einem schwarzen Kreuze. „Ich will
rasch zu diesem andern Friedhof gehen." Der Offizier aber
weigert sich. Er kann die Verantwortung nicht übernehmen,
eingesargte Leithen auszugraben. Und dann, wo sollen wir finden
, was wrir suchen? Auf diesem Friedhof gibt es mehr als
2000 Gräber von Deutschen. Ich bin jedoch entschlossen. Wir
kehren nach Verdun zurück, 18 Kilometer. Wir suchen den Befehlshaber
des Gräberdienstes aui, und nach «einer langen Verhandlung
und gegenüber unserer entschlossenen und drohenden
Haltung gibt er nach und erteilt uns die Erlaubnis, Nachforschungen
anzustellen. Am anderen Tag, um 5 Uhr morgens, w7aren
wir auf djeim Begräbnisplatz mit neirnji Mann und mehreren Soldaten
. Bis 12 Uhr waren 12 Sänge ohne Ergebnis geöffnet. Die
Leute wollten Mittag essen. Wir blieben da, mein Mann und ich,
untröstlich, denn wir begannen die Hoffnung zu verlieren. Wir
wraren der Verzweiflung nahe, als jch plötzlich an meine
Vision denke, wie wrenn ein Lichtstrahl mein Gehirn durchzuckt
hätte. ,,Aber ja," sagte ich, „wir werden, ihn wiederfinden,
er liegt zwischen einem Russen und einem Deutschen. Es befand
sich ein Russe auf dem Friedhof von Dieppe. Suchen wir
diesen." Die Leute kommen zurück und nehmen ihre Arbeit
wieder auf. Wir beide suchen nach dem Russen. Inzwischen
aiüssen wir, »so oft ein Sarg geöffnet ist, jedesmal zur Feststellung
hinkommen; das verzögert unsere Nachforschung sehr. Endlich
um 4 Uhr finde ich den Russen. Zoii seiner Linken lag ein Unbekannter
, an der Linken des Unbekannten ein Deutscher. Kein
Zwreifel, der Unbekannte ist mein Sohn, ich fühle es, ich bin
gewiß. Man gräbt: er ist eis! Sein armes Skglett war unter dem
Pelz sehr gut erhalten. Auch die Reste des Gurtes waren da.
Besonders aber erkannte ich ihn an den Zähnen wieder. —
Man hatte 42 Särge geöffnet; es gab dortselbst 110 vom Friedhof
In Dieppe stammend und im ganzen über 2000 aus den verschiedensten
Gegenden! Ohne meine Vision hätten wir auf die
Durchführung verzichten müssen.
Ist das nicht witnderbar? Mein teures Kind ist mir zu Hilfe
gekommen, es hat mir den Willen eingeflößt, bis ans Ende zu
gehen, alle Schwierigkeiten, alle Hindernisse zu überwinden. Und
seitdem bin ich ruhig. Ich fühle: er lebt, er sieht mich. Was
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