http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0522
492 Psychische Studien; XLVIII. Jahrg. 9. Heft (SeptemSber 192L)
geistigen Vorgänge, die wir als Seele bezeichnen, einer Erklärung
zugänglich sind, auch ohne daß wir nach dem Sitze der
Seele suchen. Wo Leben ist, da ist auch Seele, und wo das
Leben erloschen ist, kann auch von einem Seelenleben nicht die
Rede sein. Gibt es etwas einfacheres 'und klareres? Wir
sollen uns an das Gegebene halten und nicht Zeit und Geduld
mit unfruchtbaren Spekulationen vergeuden, an deren Stelle
lediglich kritisches Nachdenken zu treten hat. Und gerade dieses
kritische Nachdenken verlangt die Einheit der körperlichen und
seelischen Dinge. Wir wissen, daß alle seelischen Erscheinungen
verwoben sind mit denen des organischen Lebens.
WTie die Seele an sich nur ein Begriff ist für den einheitlichen
Zusammenhang der psychischen Vorgänge, so ist, wenn im Tode
der einheitlicjie Zusammenhang des Organismus zerstört ist, die
Bedingung aufgehoben, unter der ein seelisches Leben zu denken
ist. Diese Kausalität ist nicht zu umgehen. Sie verlangt, daß
wir die Ansicjit aufgeben, eine loslosbare Seele zu konstruieren.
Ich «mache auch auf den Gegensatz aufmerksam, der darin besteht
, der Seele einen besonderen Sitz anzuweisen, sie zu lokalisieren
uug nach dem Tode ihie Loslösung zu behaupten. Entweder
ist die Seele an den Organismus als Ganzes gebunden,
von der gesamten Nervensubstanz abhängig oder wir konstruieren
künstlich eine Seelensubstanz, über deren materiellen Wert
wir nichts wissen. Keineswegs soll der Gefühlswert der Seele
herabgesetzt werden, und die Berechtigung von religiös-dogmatischen
Vorstellungen zugestanden sein.
Aber wir haben keine einzige Erfahiung, die zu dem Schluß
berechtigt, daß geistige Vorgänge sich ohne materielles Substrat
vollziehen. Eine immaterielle Sonderexistenz der Seele ist
nicht bekannt. Die Seele als Be^riffsbildung, unabhängig von
Naturinhalt, kann den wissenschaftlichen Tatsachen gegenüber
nicht aufrechterhalten werden. Fragt man also, wo sitzt die Seele,
so wird man heute nur sagen können, daß man ihr eine besondere
Lokalisation nicht zubilligen kann und daß man sie anderseits
nicht von der Nervensubstanz loslösen kann. Sie steht
und fällt mit ihr, löst sich mit ihr auf und baut sich mit ihr
wieder auf. Der psychophysische Parallelismus muß gewahrt
sein. Einen Sitz der Seele in irgendeiner Gehirnprovinz kennen
wir nicht, fn der unverwüstlichen Einheit von Leib und Seele
ist der Sitz der Seele begründet. Die Seele als solche ist der
geistige Ausdruck des Leibes, daher wohnt im gesunden Körper
dio gesunde Seele und der kranke Körper erzeugt auch die kranke
Seele. Diese Regel hat Ausnahmen, denn die Seele muß den
Körper beherrschen und nicht umgekehrt. Eine andere Antwort
können wir nicht geben, und wir wollen uns freimachen von
allen Spekulationen, die mit den Tatsachen im Widerstreit sind.
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1921/0522