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Beck: Zum Räume wird die Zeit.
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Paaren gerader Linien bestehendes System von drei Raumachseu
(„räumlichen Koordinaten") anlegen könne. Diese 'drei in einem
Winkel von 90° aufeinander «senkrecht stehenden Raumachseu
würden dann — so glaubte man — gestatten, jeden Punkt des
Weltenranmes eindeutig nach Höhe, Breite und Tiefe auszumessen.
Schließlich zweifelte auch niemand daran, daß man von jedem
Punkt des Ralucmes aus gerade Linien ziehen könne, die nach
allen Seiten hin auseinanderstreben und sich bis im Unendliche
immer weiter voneinander entfernen. Der Aktionsradius der
Maßstäbe und Uhren wäre also in einer euklidischen Welt theoretisch
ein unendlicher, das heißt, die Raum- und Zeitabstände
müßten mit zunehmender Entfernung vom Ausgangspunkte auch
ihrerseits sich stetig vergrößern. Aber seit dem Auftauchen des
allgemeinen Relativitätsprinzipes und der denkwürdigen Sonnenfinsternis
von 29. Mai 1919 hat ein anderer, nichteuklidischer
Raum, den zuerst der Mathematiker Riemann (1826—
1866) theoretisch begründet hat, seinen Siegeszug auch in der
Physik angetreten. Dieser nichteuklidische, dreidimensionale
Raum ist «sphärisch, das heißt, in sich entweder kugelig oder
elliptisch gekrümmt. Man kann sich, wie allbekannt, das Raum«
achsen- oder Koordinatensystem des euklidischen, dreidimensionalen
Raumes als drei aufeinander senkrecht stehende Stricknadeln
vorstellen, die im Kreuzlmgspunkte rechtwinklig zueinander
durch einen Wollknäuel gesteckt sind. Sie zur Ortsausmessung
nach Höhe, Breite und Tiefe verwenden zu wollen, hätte
aber nur solange einen exakten Sinn, als diese drei Riesenstricknadeln
noch starr geradlinig und nicht verkrümmt sind, welch
letztere Beschaffenheit im sphärischen Riemannschen Welträume
unbedingt eintreten müßte. In diesem ist überhaupt keine gerade
Linie mehr möglich; der kürzeste Weg zwischen zwei seiner Örter
ist dann vielmehr immer ein Kreisbogenstück. Ein Lichtweg von
P>00 000 Kilometern müßte deshalb im gekrümmten Riemannschen
Räume etwas länger sein als im geradlinigen Euklidischen,, was
auf eine Ueberlichtgeschwindigkeit hinauslaufen würde. Da die
letztere aus mathematisch-physikalischen Gründen nicht möglich
ist, so erscheint auch hier das innerste Wesen der Zeit überhaupt
als dasjenige einer mathematisch-physikalischen Illusion. Im
dreidimensionalen, nichteuklidischen Riemannschen
Räume streben die von einem Punkte allseitig ausgehenden Linien
nur bis zur Größe des „Weltradius" auseinander, um sich dann
wieder zu nähern und «schließlich in einem Gegenpunkte ziiiim
Ausgangspunkte dem Abstände nach null zu wenden. Dreidimensional
läßt sich die Sache freilich nicht vorsteilen, wohl aber im
zweidimensional gekrümmten Räume. Ein solcher ist z. B. die
Oberfläche eines zu Unterrichtszwecken dienenden Erdglobus.
Auf diesem strahlen die vom Nordpol ausgehenden Längengrade
nicht ins Endlose auseinander; sie haben vielmehr am Äquator
den weitesten Abstand, um sich am Südpole wieder zusammenzu-
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