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506 Psychische Studien; XLVIII. Jahrg, 9. Heft (September 1921.)
kreuzt. Mau weiß nicht reuht, was von ihr zu halten, ahnt nur
ihre Schönheit und die Tiefe ihres* Wesens und fühlt daß sie mit
ihrem ersten Wiederverschwinden nicht dauernd und ganz aus
unserem Gesichtskreis gewichen sein wird. Nun achtet man auf
sie, \ er-Hiebt ihr näherzukommen, sie kennen und verstehen
zulernen und schließlich ihr Geheimnis zu enthüllen...
Solches Bild wurde in mir lebendig, als ich über die Frage der
Wiederverkörperung forschte und sann; aber merkwürdig: so
oft ich mich auch ihr zuwandte, immer blieb das leise, doch vernehmliche
Gefühl: niemals wirst du sie ganz lösen! So klar sich
dir andere große und größte Lebensfragen, wie die Frage nach
Unsterblichkeit :<nd Gott enthüllten: hier wird ein Ungelöste»,
Fragendes, Zweifelndes bleiben! Magst du auch Schleier auf
Schleier heben: der letzte Kern wird dir doch verborgen bleiben!
Und wer weiß, ob die Schleier überhaupt solchen Kern b3rgen! —
Aber wenn es sich auch nicht um eine entscheidungsschwerste
Frage handelt wie etwa bei den Fragen nach Unsterblichkeit,
nach des Lebens wahrem und letztem Sinn, bei der Frage nach
Gott so Joe 1 Hin eine Frage nicht nur \ou höchstem Heiz, sondern
auch unuasseudem Intens0. Lfhren doch nicht nur die
weisesten Mild äite>u n Religionen wie Brahmaivnns und
Buddhismus, nach Auslegung mancher auch das Christentum, die
WTiederverkörperuug, sondern auch eine bedeutende Anzahl der
tieist'n im1 eoifUißu'< h.-h n l).Hik'jr hat <\ih zu ihi bekannt
wie Pythagoras, Plato, in bedingter Form Giordano Bruno, selbst
ein Skeptiker wie Voltaire und nicht zuletzt der Weisen vielleicht
umfassendster: Goethe. So schrieb er an Frau v. Stein am 2. Juli
1781: „Wie gut ist's, daß der Mensch sterbe, um nur die Eindrücke
auszulöschen und gebadet wiederzukommen.*4 (Vgl. Seiling, ,.Die
Kardinalfrage der Menschheit", S. 36 ff., und desselben „Goethe
und der Materialismus", beide bei 0. Mutze, Leipzig.) Am tiefsten
und vollkommensten aber hat vielleicht Lessing die F'rage
gefaßt und erkannt. Heinrich Scholz schreibt darüber in seinem
gehaltvollen Buche „Der Unsterblichkeitsgedanke als philosophisches
Problem4' (Reuther und Reichard, Berlin) S. 29ff.: „Als
Endzustand kann (bei der Seelenwanderung) nur ein Zustand
gedacht werden, in dem das Auftreten der Seele in sichtbaren
Lebensformen überhaupt überwunden ist. Dieser Zustand fällt
entweder mit dem vollen Beisichselbstsein der Seele oder mit
ihrem Erlöschen zusammen. Das erste ist der Gedanke Piatos,
das zweite der der indischen Nirvanasehnsucht Tn beiden Fällen
ist die Seelenwanderung ein Prozeß, \on dem man erlöst au
werden begehrt.
Eine Ausnahme von dieser Regel ist Lessing. Lessing hat den
Seelenwranderungsgedanken so gefaßt, daß er eine große Perspektive
bedeutet, die der Seele ein fortschreitendes Wachstum
in Aussicht stellt. In der „Erziehung des Menschengeschlechts"
hat er die Geschichte des menschlichen Geistes in sittlich-
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