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Colsman: Wiederverkörperiing
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religiöser Beziehung als die allmähliche Offenbarung eines göttlichen
Erziehungsplanes gedeutet. . . Das Ziel der göttlichen
Pädagogik kann nur die absolute Vollendung des menschlichen
Geistes sein. Wir vermögen uns ein höheres Ziel nicht zu denken;
es ist der Weltleitung würdig und ihr aus diesem Grunde, dem
einzigen, der uns eine Bestimmung erlaubt, auch als Absicht zuzuschreiben
. Nun liegt es aber im Begriff der Erziehung, daß
sie in kleinsten Schritten voranschreitet — in Schritten, die dem
Fassungsvermögen des Zöglings genau entsprechen. Folglich
kann das Menschengeschlecht, als Subjekt der göttlichen Erziehung
gedacht, in jedem Augenblick seiner Geschichte nur diejenige
Vollkommenheitsstufe erreichen, die seiner natürlichen
Reife entspricht. Das ist die eine Seite des Lessingschen Gedankens
. Von hier aus gesehen, bedeutet er den großartigen, auf
Hegel hindeutenden Versuch, die Relativität aller historischen
Entwicklungspxmkte mit dem Glauben an den absoluten Gehalt
der menschlichen Geistesgeschichte in Einklang zu bringen.
Der Gedanke hat aber noch eine andere Seite, und diese führt
auf die Seelenwanderung. Wenn die Menschheit ihre Geschichte
wirklich als den Ausdruck einer göttlichen Pädagogik betrachten
soll, so muß sie sich so denken, daß sie das Ergebnis dieser Erziehung
auch wirklich genießt... Wenjn nun jeder schlechthin nur
einmal lebte, so würde er von dem Sinn der Geschichte nur eben
so viel erfahren, als die Entwicklungsstufe zuläßt, in die er hineingeboren
ist... Es ist ein unerträglicher Gedanke, zu denken, daß die
ungeheuren Unterschiede, die zwischen den Anfängen und den
Endpunkten der Menschheitsgeschichte in bezug auJ den Anteil
an der Vollendung des menschlichen Geistes bestehen, lediglich
durch die äußeren Gesichtspunkte eines Früher oder Später bestimmt
sein sollten. Hier muß vielmehr eine Ausgleichung stattfinden
. Und sie findet statt durch die Seelen Wanderung.
.,Warum konnte jeder einzelne Mensch nicht mehr als einmal auf
dieser Welt vorhanden gewesen Nein?
Ist diese Hypothese darum so lächerlieh, weil sie die älteste istv...
Warum sollte ich mehr »o oft wiederkommen, als ich neue Kennt
nisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe i< h auf
(inmal so viel weg, da.l es der Mühe, wiederzukommen, etwa ?«i<h<
1 erlohnt?
Darum nicht? — Oder weil ich cj> vergebe, daß ich schon dagewesen
? Wohl mir, daß ich das vergesse. Die» Erinnerung mein"/
früheren Zustände würde mir nur einen >ehleehtcn Gebrauch dt**
gegenwärtigen zu machen erlauben. Und was ich auf itzt vergessen
muß. habe ich denn das auf ewig vergessen?
Odei, weil so zuviel Zeit für mich verloren gehen würde? - \ er-
lorcnr - Fnd wa* habe ich denn zu versäumen? Tst nicht die ^anze
Ewigkeit mein?u
In diesen bedeutungsvollen Fragen verknüpft sich der Seelen-
wanderungsgedanke so eng mit der Erwartung eines unendlichen
Auisteigens, daß aller Glanz dieser Erwartung auf jenen Gedanken
zurückfällt und die Schatten tilgt die ihm in seiner klassischen
Ausprägung anhaften/'
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