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516 Psychische Studien; XLVIII. Jatog. 9. Heft. (September 1921.)
nimmt, nichts bekannt war; kennen ja doch auch die Inder keinen
Spiritismus und keine Spirits (wenigstens in unsereoi Sinne), und
die Inder haben die Weisheiten und Kenntnisse des Altertums
sehr rein bewahrt!
Auch trifft die Annahme nicht zu; damit das „Unbewußte44
(Unterbewußtsein, transzendental! M. Gr.) in Tätigkeit trete,
müsse ein traumähnlicher Zustand vorherrschen. Das stimmt nur
bei dem Unterbewußtsein biologischer Natur, denn nur einer
der beiden Gehirnteile kann dominieren, aber dem transzendentalen
Subjekt (also dem wahren Unterbewußtsein) ist es ganz
gleich ,ob der Mensch schläft, träumt oder wacht, und ich kenne
mediale und seherisch veranlagte Personen, wo dieses Unterbewußtsein
bei vollstem Wachbewußtsein tadellos funktioniert
und entweder aus eigenem Vermögen oder aus dem Unterbewußtsein
des Fragenden seine Kenntnisse schöpft — oder sogar aus
dem unermeßlichen Ozean des Universums, denn wir dürfen nicht
vergessen, daß das transzendentale Unterbewußtsein eigentlich
das Gedächtnis der Natur ist, das Weltgedächtnis, mit dem Anschlüsse
nach oben und unten. Ich selbst, der ich kein Medium
bin, habe bei psychischen Experimenten Fragen in richtiger
Weise beantwortet ohne von dem Stand der Dinge ,,bewußt"
oder „unbewußt" irgendwie unterrichtet zu sein und ohne daß
ein „Geist" aus mir gesprochen hätte, höchstens mein eigener.
Die Erkennungsmöglichkeiten einer Sache sind für das Unterbewußtsein
in vielgestaltiger Menge gegeben, wrorauf ich hier
nicht näher eingehen kann; nur zwei Hauptarten möchte ich hier
erwähnen, das Träumen und das spontane (ungewollte) Aus-
sprechen gewisser Worte und Redensarten bei Unterhaltungen,
als Antworten u. dgl. Für letztere Art will ich ein Beispiel. von
Goethe zitieren, während ich mir für den Schluß einen sehr
charakteristischen Traum aufspare.
In seiner Biographie „Dichtung und Wahrheit44 erwähnt
Goethe folgenden Fall: Als Knabe von etwa 10 Jahren
besuchte er oft das während der Besetzung Frankfurts daselbst
gastierende französische Theater und war auch bei den Tanzvorführungen
eines im gleichen Alter stehenden französischen
Knaben, Sohn eines Tanzaneisters, anwesend. Dieser jugendliche
Tänzer, der durch Gewandtheit und Anmut erfreute, trug
ein knappes Wämschen von roter Seide. Nach Beendigung der
Tanzvorführungen sagte Goethe zu einem Freund: „Wie schön
war dieser Knabe geputzt, und wie gut nahm er sich aus; wer
weiß, in was für einem zerrissenen Jäckchen er heute Nacht
schlafen mag."
Das hatte unglücklicherweise die Mutter des kleinen Tanz-
künstlers gehört. Sie verstand soviel Deutsch, um die Wor*e
auffassen und Goethe jr. tüchtig herunterputzen zu können. Da
sagte derselbe in einem Augenblick der Verlegenheit: „Nun, wozai«
der Lärm? Heute rot, morgen tot!"
Goethe sab den französischen Knaben nie mehr; derselbe
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