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Freimark: Die Durchforschung der Fälle.
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dem in seiner Art unbestritten klassischen Werke über diesen
Gegenstand von Gurney, Myers und Podmore geschah.
Es konnte einmal als wichtig gelten, eine große Reihe von
Zeugen des einzelnen Tatbestandes beizubringen und zu vernehmen
, auch war es einst sicherlich nötig, den Unterschied
zwischen subjektiver und der sogenannten objektiven Halluzination
darzutun, und ebenso möchte es scheinen, als besäßen
die Hinweise Wert, daß die betreffenden Wahrnehmer weder
hysterisch, noch nervös seien und daß sie sich völlig wach befunden
hätten.
Heute stehen wir zu alle dem ganz anders. Wir wissen,
daß eine Vielzahl von Menschen nicht weniger, sondern stärker
suggestibel ist und daß die nüchterne Wahrnehmungsfähigkeit
umso mehr nachläßt, je größer der Kreis der Anwesenden, je
absonderlicher das Ereignis ist, das zur Beobachtung kommt
und je überraschender es in Erscheinung tritt. Auch der Begriff
der Halluzination hat gegen früher an Schrecken verloren,
weil wir erkannt haben, daß auch die subjektive Sinnestäuschung
auf einen objektiven Reiz zurückgeht, nur daß sie ihn überwertet
und umgestaltet. Aber das geschieht ebenso bei der
objektiven Sinnestäuschung. Beide sollte man übrigens richtiger
Gefühlstäuschung nennen, denn es ist das Gefühl, das die Verwandlung
dessen bewirkt, was die Sinne aufnehmen. Die Ablehnung
eines hysterischen oder neurotischen Einschlages aber
bei denjenigen, die spontan zu solchen Erlebnissen gelangen,
ist nach den Feststellungen der letzten Jahre vollends unstatthaft
. Die Beobachtungen im Kriege haben deutlich gezeigt,
daß in den gesündesten und normalsten Leuten hysterische und
neurotische Möglichkeiten liegen und unter gewissen Umständen
zum Durchbruch kommen, und zwar, was zu beachten ist, oftmals
auf eine unglaublich kurze Zeitspanne beschränkt, sodaß
nach dem Abklingen des erschütternden Eindrucks so ziemlich
dieselbe Gefühls- und Gemütseinstellung besteht, wie vordem.
Wenn ungeachtet dieser Erfahrungen auch heute noch der bedingt
hysterische oder neurotische Charakter eines bestimmten
Zustandes geleugnet wird, so geschieht dies weniger aus sachlichen
Gründen, als aus der falschen Vorstellung, der Gewährsperson
damit einen sittlichen Makel anzuheften. Dabei könnte
jedermann allgemach wissen, daß diese Bezeichnungen nichts über
den ethischen Wert der Betreffenden aussagen. Es gibt Hysteriker
, denen die Welt unendlich viel gerade an sittlichen Werten
verdankt. Worauf es ankommt, ist, daß die gewisse psychische
Verfassung treffend gekennzeichnet wird, und dazu dienen diese
Ausdrücke. Mehr bedeuten sie nicht. Wäre die Sachlage so,
wie manche der Berichter wähnen, dann müßten sie nach ihrer
Logik schlußfolgern, weil der Betreffende nicht hysterisch oder
neurotisch ist, also kann er auch kein Traum-, überhaupt
kein Innenleben haben. — Und wie mit diesem Punkte verhält
es sich mit dem nachdrücklich betonten Wachsein des Wahr-
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