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576 Psychische Studien. XLVIIL Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1921.)
nehmenden. Es ist um unsere Wachheit ein eigen Ding*
Zwischen dem Wachen und dem Schlaf liegen eine Unzahl von
Bewußtseinszuständen, die weder das eine, noch das andere
sind, aber gerade für feinere Wahrnehmungen zugänglicher
machen. Wir träumen nicht nur im Bett und nicht bloß bei
geschlossenen Augen. Es genügt hier auf den bekannten Zustand
der Wachphantasie hinzuweisen, den jeder in jungen
Jahren an sich erfahren hat und der vielen zeitlebens bleibt,
wenn er auch weniger häufig auftritt. Ja. alles Planen, dem
wir nachhängen, ist ein Träumen, sobald es nur im geringsten
über den Bezirk des Tages hinausgeht. Ohne ein solches
Träumen ist jedoch ein Wirken in die Zukunft gar nicht möglich
, erst aus ihm wird Zukunft. Es bedeutet deshalb keine
Wertsteigerung, wenn für die in Frage kommenden Erscheinungen
der Traumcharakter geleugnet wird, und sie werden
nicht entwertet, wenn wir sie dem Traume gleich setzen. Sie
erhalten nur den ihnen zukommenden Platz.
Während alle diese Erscheinungen bisher nicht nur als
Äußerungen von jenseits einer Grenze betrachtet wurden,
sondern auch infolge ihrer x\bsonderlichkeit tatsächlich jenseits
aller sonstigen seelischen Geschehnisse zu stehen schienen,
rücken sie in dem Augenblick, wo wir uns ihrer Verwandtschaft
mit den Traumvorgängen bewußt werden, in eine Reihe
mit allen gestaltenden Äußerungen des Innenlebens. Die
Ebene/ auf der sie sich vollziehen, ist dieselbe, auf der die
künstlerische Empfängnis vor sich geht und auf der die Wahrnehmungen
des Geisteskranken sich zu Zwangsvorstellungen
verdichten. Diesen tatsächlichen Zusammenhang der Geschehnisreihen
dürfen wir, wollen wir zur Klarheit kommen, nicht auseinanderreißen
. Die Verschiedenheit des Ausdrucks, den die
verschiedenen Vermittler, der Seher, der Künstler, der Geisteskranke
dem an sich gleichen Vorgang geben, geht nicht so
sehr auf einen Unterschied im Wesen der Wahrnehmung als
auf einen solchen der Erlebnisstärke un<J des Erlebnisgrades
zurück. Über den Ursprung der Ursache solcher Erlebnisse
— das mag hier eingeschaltet sein — ist damit nichts ausgesagt
. Irgendwann gleitet die Kette der Kausalität stets ins
Dunkle. Wir können nur bemüht sein, die Verschlingung ihrer
Glieder soweit aufzuhellen, als sie in unserem Bereich sich
befinden. Tun wir dies, so wird sich ganz selbstverständlich
auch die Finsternis über den letzten Gründen allmählich lichten.
Indem wir die in Frage kommenden Erscheinungen aus
dem Bezirke des Wunderlichen, Zufälligen und Wirren., dahin
sie seit undenklichen Zeiten verwiesen worden sind, herausführen
und sie an die ihnen gebührende Stelle inmitten aller
übrigen seelischen Geschehnisse stellen, verändert sich ganz
von selber die zu ihrer Erforschung anzuwendende Methode.
Wir treten nicht mehr mit außergewöhnlichen Ansprüchen an
sie heran, fordern nicht umständliche Erweise ihrer Echtheit,
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