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v. Klinckowstroem: Prophezeiungen.
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kum wendet, schwillt nachgerade zu einer unübersehbaren
Hochflut an. Verständlich ist in unsicheren Zeiten insbesondere
der Wunsch, den Schleier der Zukunft gelüftet zu
sehen; ein jeder möchte gern wissen, welches Schicksal
ihm bevorsteht. So steht denn das Problem des zeitlichen
Fernsehens im Vordergrunde des Interesses, und die „Seher"
aller Art halten reiche Ernte. Wir wollen hier auf die philosophischen
Fragen, die sich an dieses Problem knüpfen und
die vornehmlich Dr. Max Kemmerich — und zwar im
positiven Sinne — behandelt hat,*) nicht weiter eingehen.
Auch auf das von den Verteidigern der Prophetie vorgebrachte
Belegmaterial wollen wir nicht näher eingehen. Nur
an eine immerhin merkwürdige Voraussage sei erinnert, die
Max Dess oir in seinem wertvollen Werk „Vom Jenseits
der Seele" (Stuttgart 1917, S. 127) mitteilt und die heute
tatsächlich in Erfüllung gegangen ist. Leon Sonrel hatte
seinem Freunde Victor Tardieu 1869 eine Anzahl politischer
und persönlicher Ereignisse prophezeit, und zwar
so, daß diese mit jenen immer zeitlich zusammenfielen. Am
3. Juni 1914 wurde nun von Tardieu schriftlich niedergelegt
, daß auf Grund der jetzt eingetroffenen persönlichen
Ereignisse folgende politische Voraussage fällig sei: „Ah!
mon Dieu! Ma patrie est perdue! la France est morte ...
Quel desastre! Ah! la voilä sauvee! Elle va jusqu'au Rhin!"
Dess oir hat wohl 1917 selbst nicht gedacht, daß es so
kommen könne. Zufall? Mag sein.
Der bekannteste unter den Propheten, mit dem sich im
Laufe der Jahrhunderte viele Interpreten beschäftigt haben
und dessen Prophezeiungen in zahlreichen Drucken verbreitet
sind, ist unstreitig Michel Nostradamus (1503
bis 1566). Es versteht sich von selbst, daß die Stellungnahme
zu dem provenzalischen Seher je nach Einstellung
der Kritiker eine sehr verschiedene ist. Während die einen,
u. a.* auch Kemmerich, in Nostradamus das wichtigste
Fundament für die These des zeitlichen Fernsehens
erblicken und auf eine große Zahl wunderbar erfüllter
Prophezeiungen hinweisen, stehen Kenner des Altfranzösischen
, wie Prof. Emile Haguenin, ihm durchaus ablehnend
gegenüber, und andere kompetente französische
Kritiker wie* Prof. Camille Pitollet in Nimes oder Jean
Valere stehen nicht an, Nostradamus als einen Betrüger
zu bezeichnen. In der Tat bereitet Nostradamus
den Interpreten kein geringes Kopfzerbrechen. Seine Sprache
ist dunkel und vieldeutig. Die angeblich zuerst in Prosa
niedergeschriebenen Vorgesichte — es handelt sich nicht
um astrologische Voraussagen — wurden* dadurch, daß
*) Kemmerich, Prophezeiungen. Alter Aberglaube oder neue Wahrheit
? 2. Auflage. München 1916.
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