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Silberer: Zur Charakteristik des lekanomantischen Schauens. f>59
Schon umfängt mich das Ungeheuer mit seinen
eklen Armen; sein naßkalter Mund berührt den meinen.
- Hilfe! Hilfe!
„Ich sinke ermattet, ohnmächtig geworden, in eine
Kc ke des Sofas.----
„Eine sanfte Stimme spricht zu mir: „Fürchte dich nicht,
du Süße. Das Gewitter ist vorüber. Siehst du? Es
regnet in Strömen, und die goldenen Strahlen der
Sonne durchbrechen die Wolken." Richard*) drückt mich
an sich. Ich antworte leise:
„ „Ich war allein und erwartete dich, als bei hellem Tag
finstere Nacht über mich hereinbrach. Und du bist nicht
gekommen. Ich dachte zitternd daran, es könnte statt deiner
jetzt jemand anders kommen - ich konnte nicht zu Ende
denken. Nur das weiß ich, daß Ungeheuer hervortraten
aus den Wänden, den Bildern, den Kasten; und daß das
eine herabkam zu mir und mich umarmte. Weiter
weiß ich nichts. Ich kam erst zu mir, als deine
Lippen die meinen berührten. Jetzt bin ich wieder
ruhig - das Gewitter ist vorbei mir ist kühl - umarme
mich fester____" "
Das teleologische Moment des Erlebnisses ist offenkundig.
Aus einer durch die schwüle Gewitterstimmung verstärkten
erotischen Spannung, wofür die Erwartung des heimlich
Verlobten die Grundlage abgibt, wird eine Situation zurecht
gezimmert, welche zu einer innigeren Zärtlichkeit führen
muß, als die beiden ziemlich zurückhaltenden Verlobten
bisher gewohnt sind. Lea hätte es längst gerne gesehen,
wenn sich Richard etwas mehr Freiheit ihr gegenüber herausgenommen
und sie umarmt und geküßt hätte. Ein offenkundiges
GeJtendmachen dieses Wunsches war ihr psychisch
nicht möglich. Als Ersatz dafür tritt die teleologische Ohnmacht
ein.
Das Interessanteste für uns, die wir uns mit dem Thema
der Visionen befassen, ist nun der Inhalt jener Gesichte,
welche den so zweckmäßigen Dämmerzustand Leas bevölkern
. Diese Halluzinationen (visuell und taktil) samt den
dazu gehörigen Emotionen sind nämlich eine treffliche
symbolische Schilderung jenes Erlebnisses, das die unbefriedigte
Lea herbeisehnt; allerdings nicht des bloßen
Kusses, sondern der vom Unterbewußtsein geforderten vollständigen
sexuellen Befriedigung., Das die äußere Grundlage
der Stimmung bildende Gewitter mit seinen Verlaufsphasen
wird dabei geschickt symbolisch verwoben. Allen
Kennern der sexuellen Traum- und Märchensymbolik wird
die zudringliche Gestalt des naßkalten Fauns eine deutliche
Sprache sprechen. Er ist derselbe, wie (nach der bekannten
*) Der sich mittlerweile faktisch eingefunden hat.
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