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Silberer: Zur Charakteristik des lekanomantischen Schauens. 6(>7
abzusprechen. Die Art, wie die Figuren auftreten, ihre Umgebung
, ihre Handlungen usw. verleihen ihnen jedesmal
einen gewissen Charakter; und das Wechseln bzw. Sich-Ausgestalten
und Sich-Vertiefen dieses Charakters von Versuch
zu Versuch bleibt aufrecht auch für die mit dem vollendeten
(zuletzt gewonnenen) Deutungs Verständnis angewendete
Prüfung.
Ad 2 ist zu sagen: Es mögen wohl derlei Beeinflussungen
vorkommen; doch wurden meine Deutungen der Versuchsperson
durchaus nicht nach jedem Versuch, ja sie wurden
ihr eigentlich erst nach Abschluß »des X. Versuches und der
gesamten Analyse mitgeteilt. Wenn ich hier von „meinen"
Deutungen spreche, so ist dies vielleicht sogar schon zu vorsichtig
ausgedrückt; sind doch „meine" Deutungen weiter
nichts als die durch die Logik des Materials geforderten
Zusammenfassungen der von Lea selbst gelieferten Aufklärungen
. Somit ist auch Punkt 2 nicht geeignet, für sich
allein die Entwicklung der Figuren zu erklären oder überhaupt
darauf einen wesentlichen Einfluß genommen zu
haben. Ich muß noch hinzufügen, daß ich sogar die Analysen
, die ich nach den einzelnen Versuchen durchführte,
sehr kurz hielt und das meiste Material erst nach Absolvierung
aller zehn Versuche gewann, so daß schon aus diesem
Grunde die „Störung" der Visionen durch die Analysen
auf ein kleines Maß zu veranschlagen ist.
Aus diesen Erörterungen geht hervor, daß die zwei Möglichkeiten
zwar keine große Rolle gespielt haben können,
aber nicht ganz ausgeschaltet waren; es würde sich, um ein
von ihnen absolut unabhängiges Ergebnis zu bekommen,
die Abhaltung neuer Versuchsserien unter den entsprechenden
Kautelen empfehlen. Und woran liegt es nun eigentlich,
daß die Figuren in ihrer Bedeutung eine Ausbreitung oder
Vertiefung erfahren? Es scheint mir hier ein der Einübung
analoger Vorgang obzuwalten. Eine Figur tritt zuerst
zögernd auf in vager Beziehung zu einer Komplexgruppe.
Der Schauende gewöhnt sich nach und nach, mit zunehmender
Bestimmtheit die ihm geläufiger werdende Figur als
Komplexausdrucksmitte] anzuwenden. Die Figur wird immer
mehr Material der betreffenden Komplexgruppe um sich
ranken und wird, immer mehr Kraft und Leben erlangend,
vielleicht ab und zu auch die Vertretung verwandter Komplexgruppen
übernehmen, bis sie schließlich mit einer ganzen
Seelenströmung oder Potenz der Versuchsperson verschmilzt.
So eine „Potenz" gehört dann nicht mehr einem einzigen
untergeordneten Komplex an, sondern durchdringt eine
große Anzahl einzelner Komplexe. Als so eine Potenz oder
SeelenStrömung wäre z. B. zu nennen: das Bestreben, in
die Gestaltung des Lebens rücksichtslos aktiv einzugreifen
(etwa wie Adlers „Aggressionstrieb"); oder aber das
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