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674 Psychische Studien, XLVIII. Jahrg. 12. Heft (Dezember 1921.)
der Schwestern hergestellt worden sein; auch ist auffällig,
daß der weiter unten genannte zweite Bericht, den der Einsender
von dem Abte einholte, über diesen Punkt schon viel
mehr weiß, als der erste. Die bezeugte Nüchternheit und
Sorglosigkeit der betr. Schwester braucht in keiner Weise
bezweifelt zu werden. Aber eine derartige Beglaubigung
ihres Wesens kann ja füglich nur den Charakter ihres
wachen und bewußten Lebens betreffen. Was daneben alles
im Unbewußten lebt, entzieht sich der Kenntnis des Abtes.
Es können also sehr wohl unbewußte Befürchtungen bestanden
haben, die gerade durch den mutigen Charakter des
Bewußtseins erst recht verdrängt wurden. „Sie konnte ferner
keine Ahnung davon haben, daß nun gerade in dieser Zeit
ein tobsüchtig Gewordener eingeliefert wurde." Das ist
nicht zu beweisen; man kann nicht wissen, auf welchem
Wege sie von dieser Möglichkeit bewußte oder unbewußte
Kenntnis erhalten haben dürfte, da sie sicher mit dem Kran
kenhaus, in dem ihr Vater lag, in dauernder Verbindung
stand Außerdem enthielt ja ihr Traum keinerlei Anzeichen
dafür, daß das gräßliche Ereignis in naher oder ferner Zukunft
bevorstehe. Es wurde vielmehr lediglich als gegenwärtig
geträumt. Die Sache hätte zweifellos mehr auf sich,
wenn sich das Ereignis in der Stunde des Traumes abge
spielt hätte. Statt dessen vergingen seitdem etwa zwei
Wochen. Der Traum ist mithin gar nicht als Wahrtraum
aufgetreten, sondern erst nachträglich zu einem solchen
gemacht worden, als ihm ein einigermaßen ähnlicher Vorgang
aus der Wirklichkeit an die Seite gestellt wurde. Wie
sehr diese Aehnlichkeit aber zum großen Teil erst nachträglich
hergestellt wurde, beweist der Satz: „Wie konnte sie
voraussehen, daß ihr Vater ermordet wurde, und zwar gerade
auf so wenig wahrscheinliche Weise, daß ihm die Hirnschale
eingeschlagen wurde?" In dem Traumbericht selber
hieß es nur, der Mann „packt den Vater beim Kopf und bearbeitet
ihn schrecklich". Die Hirnschale und der erfolgte
Tod sind spätere Zutaten aus der Erfahrung. Da die in
Frage stehenden Vorgänge weder wissenschaftlich beobachtet
, noch wissenschaftlich exakt beschrieben worden sind, so
ist es gänzlich unmöglich, aus dem vorgelegten Bericht einen
wissenschaftlich brauchbaren Schluß zu ziehen.
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