Freiburger historische Bestände - digital

4 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 1. Heft (Januar 1922.)

losen" so evident und zahlreich auftreten, daß der Mensch,
in völligem Mangel wissenschaftlicher Erkenntnis, die trennenden
Schranken der beiden großen Naturreiche lange Zeit
für unverrückbar, ganz unüberschreitbar hielt.

Im Altertum ahnten zwar einzelne Denker das Bestehen
gewisser gemeinsamer Grundlagen und Beziehungen zwischen
Lebendigem und Leblosem, da sie jedoch wissenschaftlicher
Belege entbehrten, ergaben sie sich gänzlich phantastischen
, zum Teil absurden Erklärungsversuchen. So typische
Merkmale des Lebenden, zu denen auf den ersten Blick im
anorganischen Reiche sich nichts Entsprechendes vorfindet,
wie insbesondere die allerauffälligste Erscheinung der Bewegung
, welche scheinbar den anorganischen Körpern mangelt
, drängten die Gelehrten zur Erklärung dss Lebens mit
Hilfe besonderer, rätselhafter Kräfte übersinnlichen Ursprungs
, mit anderen Naturkräften durchaus nicht identisch.
Mit fortschreitender Erforschung der anorganischen Natur
und, damit parallel gehend, stets neuem Erfassen vieler Verbindungsglieder
und Beziehungen zum organischen Reiche,
kam man zur Erkenntnis, daß auch die organische Welt denselben
unveränderlichen Gesetzen wie die anorganische gehorcht
, und die Naturwissenschaft suchte die Lösung des
großen Lebensrätsels auf dem sicheren Wege exakter Forschung
, stets bestrebt, auch die Erscheinungen des Lebens
mit Hilfe bekannter, gesetzmäßiger Vorgänge zu erklären
und auf diese zurückzuführen.

Während aber ein Teil der Forscher — die Vitalisten
in der Wissenschaft — die Möglichkeit, allein auf diesem
Wege der Wahrheit sich zu nähern, aufgaben und den Begriff
einer besonderen Lebenskraft antizipierten, die erst in
Verbindung mit der leblosen Materie imstande ist, Lebenserscheinungen
hervorzurufen, war der andere Teil hervorragender
Gelehrten bemüht, das Geheimnis des Lebens
einzig und allein mit Hilfe bekannter, aus verschiedenen Erkenntnisgebieten
der Naturwissenschaft gewonnener Kenntnisse
zu ergründen, und gerade in der Gegenwart sind wir
Zeugen eines heißen Ringens zweier feindlicher Lager, die
auf dem Felde der jüngsten, der biologischen Wissenschaft
einen erbitterten Kampf führen um den heiligsten Besitz der
Ku3tui*menschheit: die erkannte Wahrheit.

Bevor ich mich dem eigentlichen Thema zuwende, sei es
mir gestattet, im folgenden kurz aus der zahllosen Menge
der Ansichten und Meinungen die wichtigsten Theorien hervorragender
Forscher hervorzuheben, die mit größerem oder
geringerem Erfolge sich bemühten, den geheimnisvollen
Schleier des größten Mysteriums der Natur zu lüften: des
Lebens Wesen und Ursprung zu ergründen.