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Mikuska: Das Problem des Lebens. {>»
Bis zum Jahre 1828 glaubte man, daß die organischen,
Stoffe nur im lebenden Organismus unter dem Einfluß
einer besonderen Lebenskraft entstehen und alle organischen
Kombinationen nur „wieder aus organischen Stoffen
hervorgehen können. In dem genannten Jahre fiel diese
alte Anschauung, als es dem Chemiker Wohl er gelang,
auf künstlichem Wege Harnstoff herzustellen. Bis zur Großtat
Wöhlers sah man in der chemischen Kunst vor allein
eine zerstörende, vernichtende Wissenschaft, die nur zerlegt
und nicht zusammensetzt, und Berzelius, der die
Chemie dei ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beherrschte,
bezweifelte offen, daß es möglich werden sollte, viele organische
Stoffe zu schaffen. Und auch Gerhard, ein
bedeutender Reformator in der Chemie, meinte spöttisch,
daß der Chemiker gerade das Umgekehrte tue von dem, was
die Natur, ei verbrenne, analysiere, zergliedere, während die
Lebenskräfte allein es zustande bringen, zusammenzusetzen,
wiederaufzubauen, was die chemischen Kräfte zerstörten.
Indessen wuchs die synthetische Kunst der Chemie rapid an,
und schon in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts
wagt es Berthellot, von der chemischen Synthese, deren
bedeutendste! Repräsentant er noch bis zu seinem Tode
(1907) war, zu behaupten, daß sie viel mächtiger, mannigfaltiger
und geistreicher wäre, als die Natur selbst.
Diese großen Erfolge der Chemie, die organischen Naturkörper
in die Grundstoffe aufzulösen und wieder aus ihnen
neu herzustellen, schwellte die Hoffnungen der Gelehrte^
auf chemischem Wege viele Schöpfungsrätsel zu erforschen
und zu lösen, insbesondere sich jenes Geheimnisses
zu bemächtigen, durch das der Mensch zum Beherrscher
dieses Lebens sich erheben könnte.
Darum ist seit den ersten Erfolgen der synthetischen
Chemie bis auf unsere Tage die chemische Auslegung
des Lebens die alterpopulärste. Man glaubte, daß, da es
möglich sei, die organischen Stoffe mit eigenen Mitteln herzustellen
, einmal nach weiteren wissenschaftlichen Fortschritten
auch das erste Lebewesen aus der Hand des organischen
Chemikers hervorgehen könnte. Man kann sich
denken, zu wieviel Witz und Komik diese Idee stets Veranlassung
gegeben, wenn im Laufe der Zeit sich immer von
neuem die Torheit dieser hochmütigen Einbildung herausstellte
. Doch wie fruchtbar und anregend vielfach diese
Idee auf Kunst und Wissenschaft gewirkt hat, cta< bezeugt
uns die wissenschaftliche und schöne Literatur bis auf unsere
I age.
Die unorganischen Stoffe bilden nach bestimmten Regeln
aus einfachen Elementen Verbindungen; diese zerlegen sich
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