http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1922/0116
110 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 2. Heft. (Februar 1922.)
sichtige Körper hindurch und ohne Hilfe der Augen stattfindet
.
Betrachtet man die Einzelheiten unserer Versuche, sieht
man sofort, daß dies nicht mit den Tatsachen übereinstimmt.
Herr Ossowiecki erfaßte die in den Briefen enthaltenen
Gedanken vollständig, aber las niemals den Text Wort für
Wort.
Zwischen dem Text der Schriftstücke und seinen Worten
bestehen Verschiedenheiten, die deutlich zeigen, daß es
sich nicht um ein Lesen auf supranormalem Wege handelt.
Um nur ein Beispiel zu erwähnen, erinnern wir an Nr. 3.
Herr Ossowiecki hat die Idee eines Fisches, von einer
Zeichnung, die einen Fisch darstellt. Er ist dessen sicher.
Aber er sieht nicht die Zeichnung, von der er ein Bild im
Kopfe trägt. Er sieht sie so wenig, daß er einen anderen
Fisch zeichnet.
Indessen ist es interessant, daß Herr Ossowiecki in einer
der Sitzungen im April nicht imstande war, einen englischen
Brief zu lesen. Das ist ein merkwürdiger Widerspruch, denn
wenn der Hellsehende Kenntnis vom Gedankeninhalt und
nicht das Bild des graphischen Gedankenausdruckes vor
sich hat, sollte er von einem Englisch geschriebenen Briefe
ebenso leicht Kenntnis erlangen können wie von einem
französischen.
Es bleibt noch viel Geheimnisvolles dabei zu erklären.
Nichtsdestoweniger kann man, wie ich glaube, im Zusammenhang
mit den beobachteten Tatsachen, den allgemeinen
Schluß ziehen, daß es sich im Falle von Herrn Ossowiecki
nicht um ein Lesen durch undurchsichtige Körper hindurch
handelt.
Haben wir hier Gedankenlesen oder eine besondere Art
geistigen Rapports vor uns?
Das wäre augenscheinlich die naheliegendste Hypothese:
diejenige, die am meisten Anhänger haben wird. Aber
wenn wir sie betrachten, so sehen wir, daß sie ernstliche
Schwierigkeiten bietet.
Vor allem handelt es sich sicher nicht # um das Lesen bewußter
Gedanken. Herr Ossowiecki hat Briefe, deren Inhalt
mir unbekannt war, ebenso leicht wahrgenommen wie
solche, deren Inhalt ich kannte.
Mehr noch, der Brief, den er mit der größten Mühe las,
war gerade der des 9. Versuchs. Ich erinnere daran, daß ich
mich stark auf die beschriebene Szene konzentrierte. Meine
geistige Anstrengung schien nur die seinige zu beeinträchtigen
. Wenn hier Gedankenübertragung vorliegt, muß man
anerkennen, daß die Zufälligkeiten von Zeit und Raum, die
Beziehungen oder Nichtbeziehungen zum Absender ohne
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1922/0116