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Wallis: Der Traum als Wirklichkeit; * 229 ?:
Wirklichkeit an allgemeiner Dignität hinter der Wachwirk-
lichkeit zurücksteht Diese ist und bleibt die primäre, die
Hauptwirklichkeit, während jene als die sekundäre oder
Neben Wirklichkeit erscheint. Schließlich stellt ja doch auch
augenscheinlich der Wachzustand die eigentliche Daseinsform
des Menschen dar, auf welche es eben abgesehen ist,
während der Schlafzustand nur als eine Hilfsquelle anzusehen
ist, aus welcher dem Wachzustand ein Teil der nötigen
Existenzmittel zufließt. Man schläft um des Wachens
willen, nicht wacht man um des Schlafens willen. Der
Wachende ist der ganze Mensch, der Schlafende nur ein
Halbmensch. Schon hieraus folgt die'sekundäre Natur der
Traumwirklichkeit.
Dazu kommt die sogenannte Dissoziierung des Traumlebens
. Dieses erscheint mehr oder weniger ungeordnet, zusammenhangslos
, phantastisch. Die einzelnen Traumreihen
kreuzen sich bisweilen wie widerspruchsvolle Gedankenreihen
und rennen gelegentlich zusammen, wie auf falschem
Geleise abgelassene Bahnzüge. Das Kausalgesetz, welches
im Wachzustande so strenge Disziplin hält, scheint zeitweilig
entthront zu sein, so daß im Staate des Morpheus
bisweilen alles drüber und drunter geht. Die Traumbilder
sind manchmal verzerrt wie die. menschlichen Gestalten in
* .....
den bekannten konvexen oder konkaven Vexierspiegeln. Der
Traumgott ist ein problematischer Herr, der uns mit Para-
doxien in die Quere kommt, ein Possenreißer, der seine
Mätzchen macht. Auf dieser Dissoziation des Traumlebens
beruht die oft bemerkte Verwandtschaft des Traumes mit
dem Wahnsinn. Anderseits hüte man sich, die Vorstellung
von dieser Dissoziation zu übertreiben. Die scheinbare Ab-
gerissenheit, welche unsere Traumbilder bei kritischer Betrachtung
nach dem Erwachen zeigen, kann wenigstens zum
Teil sehr wohl auf Amnesie zurückgeführt werden. Da
nämlich der Sprung beim Erwachen aus der ganz andersartigen
Traumwelt in die Wachwelt ein recht erheblicher
ist, so ist es kein Wunder, wenn erfahrungsgemäß die Erinnerung
an die Träume sehr bald nach dem Erwachen zu
verblassen beginnt und sich nur noch die Hauptpunkte der
Traumreihe deutlich abheben wie die Kuppen einer Hügelkette
am Horizont, während die dazwischenliegenden Täler
im Dunst verschwinden. Es könnte also immerhin sein, daß
die einzelnen Traumkomplexe doch wie jene Hügel in einem
geordneten Kausalzusammenhange stehen, nur daß das kurzsichtige
Auge der Erinnerung die Mittelglieder nicht mehr
zu erkennen vermag.
Zugleich könnte die Dissoziation der Träume darauf beruhen
, daß die einzelnen Traumreihen durch eine Periode
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