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Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 4. Heft. (Aprül922.)
Der gespenstige Leichenzug.
Von H H ä n i g, Würzen.
Sageü von gespenstigen Leichenzügen, die um Mitlernacht
an einsamen Stellen vor den Augen des Wanderers
vorübei ziehen, finden sich an verschiedenen Stellen Deutschlands
. So heißt es z. B. bei Meiche: Sagenbuch des
Königreichs Sachsen, Nr. 309, aus dem Erzgebirge: Im
sog. Vogelwalde, unterhalb Pöhla bei Schwarzenberg, soll
zu manchen Zeiten des Nachts 12 Uhr ein Leichenzug zu
sehen gewesen sein. Begegneten demselben Personen, so
mußten dieselben wie festgebannt stehen ; nur derjenige, welcher
eine brennende Zigarre bei sich führte, konnte ungehindert
seines Weges gehen. Oder Nr. 318 von Würzen:
Die Nacht vor dem Johannistage des Jahres 1706 hat Meister
Christian Lohse in seinem Hause auf dem Krostigal
zum Fenster hinausgesehen, und es ist ihm vorgekommen,
als wenn eine Leichenprozession den Krostigal heraufkäme
und um die Ecke nach der Stadt zu ginge. Solches hat er
gleich darauf dem Türknecht Balthasar Münch auf dem
Kirchwege gesagt, der ihn sogleich erinnert, ob er nicht etwa
den Tag zuvor zu Biere gewesen und also durch die Hülsen
gesehen, allem er ist beständig bei seiner Rede geblieben
, daß er gewiß etwas gesehen. Man hat auch auf der
Fähre nachgefragt, ob nicht etwa eine vornehme Leiche
durchpassiert sei, niemand hat aber etwas daselbst davon gesehen
, allein er ist beständig bei seiner Rede geblieben, daß
er gewiß etwas gesehen. Aber im Monat August kam eine
schwere Ruhr nach Würzen, welche innerhalb sechs Wochen
70 bis 80 Personen von jedem Alter wegraffte.
Es liegt nahe, in solchen Sagen Ausdruckserscheinungen
von Todesahnungen u. dgl. zu sehen, die in Verbindung mit gewissen
Naturerscheinungen, z. B. Mondschein, entstanden
sind. Daß aber eine ernsthafte Wissenschaft sich nicht
ohne weiteres bei diesen Erklärungen beruhigen darf, zeigt
folgender Bericht, der mir im September 1921 aus dem
Munde einer gewissen Frau Thomas in Greibnig bei Liegnitz
in Schlesien zugegangen ist, die den Hergang selbst mit
ihrem inzwischen verstorbenen Gatten erlebt hat. Die beiden
fuhren vor ungefähr 20 Jahren von Mankelwitz in der Lieg-
nitzer Gegend, wo sie ihren schwerkranken Vater besucht
hatten, dessen Ableben sie erwarteten, über Rosenau und
Oyas nach Koischwitz. Gegen Mitternacht befanden sie sich
in der Nähe einiger Wiesen zwischen den beiden zuletzt
genannten Dörfern, als das Pferd plötzlich die Ohren spitzte
und nicht weiterzubringen war. Der Mann hielt endlich
das Gefährt inne, und die beiden erblickten im Mondschein
einen Leichenzug vor sich, der lautlos vorüberzog. Die Frau
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