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266 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1922.)
S. 159) ist nämlich an einer Stelle die Rede von einem
Gaukler, der zu Magdeburg seine Vorstellung damit beendete
, daß er ein Seil in die Luft warf und daran mitsamt
seinem Pferde und seiner Familie emporkletterte und verschwand
. Die Vorlage für das Detail des Zerstückeins und
Wiederzusammenfügens eines Menschen findet Kiese-
wetter in dem genannten Faustbuch. Es finden sich sogar
noch mehr Beispiele, die belegen, daß diese beiden Haupt,
bestandteile des Seilberichtes altes europäisches Sagengut
sind. A. Jacoby hat das Material mit einer eingehenden
kritischen Analyse des Seilexperiments und seiner Beschreibungen
zusammengestellt. Besonders interessant ist hieraus
eine irische Sage („Erin", VI, 130ff.), die wir nach Jacoby20;
kurz anführen wollen. Ein reisender Gaukler namens Caol
Riava warf einen Garnballen in die Luft, der sich abwickelte
und in den Wolken verlor. Das andere Ende behielt er in
der Hand. Dann ließ er einen Hasen daran in die Luft
klettern, ebenso ein Windspiel, das dem Hasen scharf nachsetzte
. Ein dicker Mann unter den Zuschauern erklärte sich
auf Befragen des Gauklers bereit, gleichfalls an dem Garnfaden
hinaufzuklettern, um den Hasen vor der Wut des
Hundes zu retten, obwohl ihm der Gaukler mit dem Tode
drohte, falls ihm das nicht gelänge. Alle drei verschwenden
in der Luft den Zuschauern aus dem Gesicht. Dann wickelte
der Gaukler das Garn wieder auf: er fand den Dicken eingeschlafen
und den Hund mit dem letzten Bissen vom Hasen
in den Zähnen. Darauf schlug der Gaukler dem Dicken
kurzerhand den Kopf ab, was aber einen der Zuschauer zu
lebhaftem Widerspruch herausforderte. Da setzte Caol Riava
dem Enthaupteten den Kopf wieder auf die Schuirern und
heilte ihn an, aber als Denkzettel so, daß das Gesicht hinten
stand. —- Hier finden wir in der Tat die Hauptelemente des
indischen Seilexperimentes wieder: der in die Luft geworfene
Garnfaden, an dem jemand emporklettert, und die Wiederbelebung
des Mannes. Jacoby deutet auch das indische Experiment
als Sage. Ob er damit Recht hat, werden wir
sehen.
Um auf Kiesewetter zurückzukommen, so hat er übersehen
, daß Frau Blavatsky ihre Quelle in der ,Jsis un-
veiled" genau genannt hat: nämlich die englische Ausgabe
der Reise des Marco Polo, die im Jahre 1871 der englische
Geograph Sir Henry Yule besorgt hatte: „The Book of
20) A. Jacoby , „Zum Zerstückelung- und Wicderbelebungswunder»
der indisdhen Fakire" im „Archiv für Religionswissenschaft", Bd. 17, 1914,
S.455ff. — Auch Stoll (a. a. O.) und K. H. E. de Jonge, „Da«*
antike Mysterienwesen", Berlin 1909, S. 349/352, ziehen antike und sonstige
Parallelen zum Seiiexperiment heran.
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