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278 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 5. Heft. (Mai 1922.)
toren im Einzelwesen meist sehr beschränkt sind, wäre daraus
zu verstehen, daß nur ein winziger Teil des überindividuellen
Seelenwesens in jenem wirkt. Aus dieser Beschränktheit
des im Einzelwesen wirksamen Seelischen würde sich
die Unvollkommenheit der organischen Zweckmäßigkeit erklären
.... Weil in verschiedenen Lebewesen verschiedene
beschränkte Teile des überindividuellen Seelenwesens wirksam
sind, können deren zweckmäßige Leistungen in härtestem
Widerstreit stehen. So würde sich die Disharmonie
im Reiche der Organismen erklären aus der Verzweigung
des überindividuellen Seelischen in eine ganze Anzahl individualisierter
seelischer Teilwesen, die in verschiedenen Einzelwesen
wirken. Doch würde es sich immerhin gelegentlich,
etwa im Altruismus *) der Wirtspflanzen gegen ihre Gäste,
geltend machen, daß die verschiedenen seelischen Zweige
einem seelischen Stamme angehören, daß es das gleiche
überindividuelle Seelenwesen ist, welches durch seine Teile
Wirtspflanzen und Parasiten belebt/*
III Becher, der o. Professor der Philosophie an der
Universität München ist, war sich natürlich der Tragweite
seiner Gedankengänge vollauf bewußt. Und so war er bemüht
, gleich von vornherein etwaigen Entgegnungen die
Spitze abzubrechen und gerade die hierauf bezüglichen Ausführungen
*) dürften von nicht minder großem Interesse
sein; denn in ihnen sucht Becher die Berechtigung seiner
Hypothese nachzuweisen gegenüber gewissen Richtungen
innerhalb der Wissenschaft. Wer jene Richtungen ablehnt,
dem dürlten gerade Bechers Gedankengänge, aus denen
ein umfassendes Wissen spricht*), wertvoll sein.
Gegen den Vorwurf, solche Gedanken müßte man als
„metaphysische Venrrungen" weit von sich weisen, verweist
Becher auf die Erfolge der zeitweise als metaphysisch
gar sehr in Mißkredit gebrachten Atomtheorie und stellt
fest, daß inzwischen diese antimetaphysische Richtung in
Physik und Chemie eine völlige Niederlage erlitten habe, so
daß selbst alte Feinde der Atomtheorie, auf Grund zahlreicher
und glänzender Erfolge, zu ihren. Fahnen übergegangen
sind. Jene „biologische Hypothese", die von Becher
vertreten wird, sei von gleicher Art wie jene physikalische
Lehren, die man vor nicht langer Zeit als metaphysische
Spekulationen verketzerte. Sei doch auch der von der Naturwissenschaft
angenommene, alle Körper umfassende und
*) Anm. d. Verf.: d. h. in der selbstlosen Fürsorge.
**) Becher a. a. O. S. 135 ff.
***) Es sei nur darauf hingewiesen, daß E. Becher der Verfasser des
Bandes „Naturphilosophie" des großen Sammelwerkes „Kultur der Gegenwart
" ist.
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