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Neumann: Arzt und Psyche. 335
Ein Schema gibt es hier nicht. Es gibt wesenseigene und
wesensfremde Suggestionen. Auch bei der Massensuggestion
kommt es zu diesen Unterscheidungen.
Weder der Arzt noch der Psychologe kann an diesen
Dingen vorübergehen. Gerade in unserer Zeit drängen sie
sich auf und heischen eine Erklärung. Die Massensuggestion,
sagt Professor A. Friedländer, bildet oder verderbt den Charakter
des Volkes, und Gustav le Bon sagt, wer die Kunst,
die Einbildungskraft der Massen zu erregen, kennt, kennt
auch die Kunst, sie zu regieren. Die Masse handelt impulsiv.
Es ist leichter, eine Masse zu suggestionieren als den einzelnen
. Er fürchtet sich vor der Verantwortung. Der einzelne
geht, wie in der Masse, auch in der Massenmoral auf. Er vollbringt
Taten, die er einzeln nicht tun würde (Stern, Werden
und Wesen der Persönlichkeit).
Ich ging von der Angstneurose aus. Oft ist die Furcht
vor dem Uebel größer als das Uebel selbst. Wir sehen das
an den sogenannten Phobien. Wir sprechen von der Syphili-
phobie, der Furcht, an Syphilis zu erkranken, verwandt dem
Delire de tomber, der Angst und Furcht, durch Berührung
sich eine Infektion zuzuziehen, u. a. m. Alle diese Dinge
fallen unter die Psychasthenie, die Nervenschwäche. Es
handelt sich oft um psychopathische Persönlichkeiten, um
gespaltene Menschen, um dissoziative Charaktere. Zwar hat
Rt Hanko in einer sehr ir^eressanten Studie sich für den
Dissoziativismus ausgesprochen. Er hat sein Buch den Opfern
der menschlichen Gesellschaft gewidmet. Aber die Enge
der menschlichen Verhältnisse führt doch zu Spaltungen
der Persönlichkeit, und wenn der dissoziative Mensch der
Mensch der Möglichkeiten ist, so halte ich diese Dissoziation
für krankhaft. Der schrankenlose Individualismus kann nicht
der gegebene sein.
Die Psychologie des Einzelmenschen ist keine Psychologie
. Ganz gewiß ist das Problem Individuum und Gesellschaft
schwer zu lösen, aber wir sind eben keine Einzelnen,
und Person und Gemeinschaft bilden ein Ganzes, eine psychische
Synthese, die unauflösbar ist. Die Psyche des dis-
soziativen Menschen ist bedenkenlos. Dadurch wird der
dissoziative Mensch eine Gefahr. Das Selbstbewußtsein des
dissoziativen Menschen als typisches Merkmal nach R.
Hanke ist bedenklich. Es führt zum Solipsismus von Stirner
und Nietzsche. Ich kann ihnen ebensowenig folgen, wie
ich in allem Dr. J. Maack folgen kann. Er konstruiert ein
zweites Gehirn. Symbolisch mag das richtig sein, aber praktisch
führt diese „cerebrale Bilokation" doch zu sehr grotesken
Konsequenzen. Die Emanationstheorie, die das zweite
Gehirn in die Fingerspitzen verlegt, hat etwas Bestechendes,
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