http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1922/0353
Psychische Studien.
Monatliche Zeitschrift,
vorzüglich der Untersuchung der wenig gekannten Phänomene des
Seelenlebens gewidmet.
49. Jahrg. Juli 1922.
Zur Frage nach dem Wesen und Wirken einer Lebensenergie
.
Von Rudolf Seifert, Breslau.
Nach \V, Ostwald ist alles Reale in der Welt als
\\ irkung verschiedener Energieformen aufzufassen. Die
Materie erscheint als etwas rein Subjektives, das lediglich
durch die Eigenarten unseres Anschauungs- und Vor-
* stellungsVermögens bedingt ist; da wir, streng genommen,
mit unseren Sinnen immer nur Energieschwankungen und
Energieumwandlungen wahrnehmen können, als deren
Träger wir eine uns umgebende stoffliche Welt konstruieren.
Es erklärt sich von selbst, daß aus der logischen Durchführung
dieser Anschauung das Vorhandensein zahlreicher
Energieformen resultiert, die eben alle wahrnehmbaren Qualitäten
der vermeintlichen Materie uns durch Vermittclung
der Sinnesorgane zum Bewußtsein gelangen lassen. Diese
UÜbertragung kann aber durch die ebenfalls „immateriellen"
Organe nur auf energetischem Wege erfolgen, und somit
fuhrt die Ostwaldsche Auffassung direkt zur Annahme einer
psychophysischen Energie. Ihre nähere und eingehendere
theoretische Begründung wurde bereits von Seiten
des Philosophen L a ß w i t z unternommen. Er postuliert das
\ orhandensein einer spezifischen Energie in den Nervenzellen
, die einerseits als Ursache jener materiellen Veränderungen
in Frage kommt, die, wie experimentell festgestellt,
jeden psychischen Vorgang in den Ganglienzellen begleiten,
ohne allerdings, wie häufig geglaubt wird, mit ihm identisch
zu sein. Anderseits tritt sie als Träger der psychischen Tätigkeit
auf, die im einfachsten Falle in jener genannten Wechselwirkung
eben dieser neuropsychischen Energie mit den verschiedenen
Energieformen des umgebenden Milieus besteht.
Diese Auffassung der psychophysischen Energie entspricht
keineswegs jenem von Grot eingeführten gleichnamigen
Begriff. Nach Grot soll in den Nervenzellen auf^er einer
rein neuropsychischen Energie eine besondere, gleichsam
höhere und übergeordnete Kraft wirken, die an eine impon-
dcrable ätherische Substanz gebunden erscheint und nach
dem Tode sich von dem Körper trennt. Die Unzulänglichkeiten
dieser Theorie sind schon früher genugsam klargelegt
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