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396 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 7. Heft. (Juli 1922.)
Entweder legt er das entscheidende Gewicht auf die Reproduktion
des Wortes „Hellsehen", dann ist die Lesung
nicht nur „fast richtig", sondern ganz richtig. Oder aber
er versteht unter Lesung die genaue Beschreibung des
visuellen Gesichtseindrucks, dann ist die Lesung auch jetzt
noch immer nicht „fast richtig", sondern im höchsten Grade
ungenau, denn sie würden noch für zahllose andere Worte
zutreffen. Es erübrigen sich also die Ungezogenheiten Hennings
auch in diesem Punkte völlig. —
Was nun die Sache selbst, d. h. dem Bericht von Schotte-
lius und die parapsychischen Fragen angeht, so wiederhole
ich: Die entscheidenden Schwierigkeiten für eine normalpsychologische
Deutung des Falles Kahn: die positiven Angaben
Schottelius', daß derselbe Zettel entziffert habe, die
er überhaupt nicht in die Hand und auch nicht zu sehen
bekommen habe, hat Henning auch durch seine zweite
Publikation nicht aus der Welt zu schaffen vermocht. Es
bleibt daher bei der Alternative, mit der ich meine „Bemerkungen
" schloß: entweder sind die von Schottelius mitgeteilten
Berichte in erstaunlichem Maße falsch, so falsch,
daß die, welche sie gegeben haben, kaum noch wissenschaftlich
ernst zu nehmen sind, oder aber es liegt eine über-
normale psychische Leistung vor. Von einer eigentlichen
„Entlarvung" Kahns zu sprechen, ist unerlaubte Unge-
nauigkeit. Damit ist mehr behauptet, als sich beweisen läßt.
Ich fürchte, daß wir über die Stellung jener Alternative
nicht hinauskommen werden, da Kahn nicht weiter untersucht
werden kann. Der Umstand, daß er sich für weitere Versuche
nicht zur Verfügung gestellt hat, läßt natürlich für
Skeptizismus weiten Raum. —
Die ganze Absicht meiner „Bemerkungen" war, Versuchsverfahren
anzugeben, die mit Vorteil in Anwendung zu
kommen hätten, wenn weitere Versuche mit Kahn möglich
feeworden wären, wtozu damals noch nicht alle Aussichten
geschwunden zu sein schienen*). Diese Versuchsvorschläge
wären so gestaltet, daß sie gleichzeitig eine Nachprüfung
ider von Schottelius behaupteten Fähigkeiten Kahns darstellten
. Besaß Kahn sie nicht, so mußte das Versuchsergebnis
negativ sein.
*) Henning spricht gelegentlich von „Institutserfahrung". Das soll
wohl heißen: in Tübingen gibt es keine psychologische Arbeitsmöglichkeit.
Ich möchte feststellen, daß es auch in Tübingen ein experimentelles Institut
gibt, wenn es auch nur zur Hälfte seines Bestandes dem Staate gehört
. Diese Hälfte ist aus Mitteln des Pädagogischen Seminars eingerichtet.
Die andere Hälfte beruht auf von Prof. Groos wiederholt zur Verfügung
gestellten größeren Mitteln, für deren Verwendung ich selbst Vorschläge
gemacht habe.
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