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406 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 7. Heft (Juli 1922.)
In seinen sehr lesenswerten Schlußbemerkungen weist Tischner
darauf hin, daß in der Wissenschaft der Empiriker und nicht der
Apriorist das gewichtige Wort zu sagen hat Wie in der Religion,
so gibt e; in der Wissenschaft einen Dogmatismus, der aus Prinzip
durch den wissenschaftlichen Rationalisten vertreten wird, indem er
versucht, die Beobachtungen in seine Weltanschauung einzufügen; falls
das nicht zu gehen scheint, sucht er sie als nicht vorhanden zu betrachten
, wie der Schielende die störenden Doppelbilder vermeidet;
indem er das eine Auge unterdrückt; wenn dem Rationalisten auch
diese Taktik mißlingt, so sucht er auf alle Weist: die Realität der Tatsache
zu bestreiten und zu verdächtigen, eine Methode, die jeder
Experimentator onf paraphysischem Gebiet gelegentlich bei Gelehrten«
beobachten kann. f
Möge dieser Akt historischer Gerechtigkeit, den Tischner dem vielverleumdeten
Zöllner in seinem verdienstvollen Werk zuteil werden
läßt so spät er auch kommt, in weiteren Kreisen aufklärend wirken und
möge die Beschreibung der Versuche selbst befruchtend auf die junge
paraph} sische Forschung einwirken.
Dr. Frhr. v. Schrenck-Notzing.
Birnbaum, Dr. Carl, „P s y c h o - P a t h o 1 o g i s c h e Dokumente.
Selbstbekenntnisse und Fiemdzeugnisse aus dem seelischen Grenz-
lande. Berlin 1Q20. J. Springer Verlag. 334 S. (Bei Mutze-Leipzig
\ erratig.)
Auf dieses sehr verdienstvolle Buch des bekannten Berliner Psychiaters
, das schon vor Jahresfrist erschien, hinzuweisen, erscheint notwendig
, um dem Leserkreis Gelegenheit zu geben, unter Führung
eines sehr belesenen und vielseitig gebildeten Arztes und Psychologen1
eine Wanderung durch das vielseitig verschlungene Gebiet der Pathologie
des Seelenlebens anzutreten. Birnbaum stellt hie* aus dem Leben
bedeutender Menschen jene Erscheinungen zusammen, die von jeher
für den Außenstehenden eine besondere Anziehungskraft und intensives
Interesse erweckten: jene außergewöhnlichen und fremdartigen Seelen-
vorgange, j>ne Nacht- und Schattenseiten des seelischen Lebens, die
durch das Pathalogische gegeben sind. Er läßt uns an der Hand
selbstgeschaffener und inhaltlich ungewöhnlicher Urkunden überragender
Menschen aller Art die Erscheinungen des kulturellen und geistigen
Lebens von einer sonst fernliegenden Seite betrachten. In farbenreichem
Wechsel läßt er weit über hundert berühmte Namen, Dichter
und Maler, Komponisten und Schauspieler, Philosophen und Gelehrte,
Politiker und moderne Menschen, Heilige, Ekstatiker und Stigmatisierte
an unserem geistigen Auge vorüberziehen. Birnbaum benutzt
zu seinem Dokumemenmaterial Beweisstücke von besonderer Art und
ungewöhnlichem literarischen Reiz und Wert, nämlich Briefe und Tagebuchblätter
, Lebenserinnerungen und Selbstbiographien, Stellen aus ihren
Werken von eigener Hand oder andere lebens- und zeitgenössische
Berichte. Der Autor bringt sowohl Menschen, deren Leben durch
zerstörende psychische Krankheitsprozesse in wirkliche Geisteskrankheit
verlief (Hölderlin, Lenz, Lenau, Nietzsche) wie andere bedeutende
Geister, die zwar im Vollbesitz ihrer Geisteskräfte, doch in ein/einen
Zügen Abweichungen ins Pathologische aufweisen (Rousseau, Dostojewski
, Fechner, van Gogh, Flaubert, Gutzkow, Strindberg) und schließlich
jene Männer und Frauen, bei denen ein/eine Züge, wenn auch
nicht pathologisch, so doch physisch abwegig sind, und an deren Beispielen
ein Einblick in dichterisches und künstlerisches Schaffen gewährt
wird. Hier Namen zu nennen, wäre überflüssiges Beginnen.
Aber der Autor will nicht alle jene zum Teil berühmten Persönlichkeiten
als pathologisch abstempeln, sondern gewisse, sonst ungenügend berücksichtigte
Wesensseiten ins rechte Licht setzen, und es verdient
ernste Beachtung, daß es möglich war, ein solches umfassendes Material
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