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Tischner: Die psychische Dingwelt. 437
Die psychische Dingwelt.
Von Rudolf TiscKner.
Eines der größten Rätsel unseres Daseins ist die eigentümliche
Tatsache der Verquickung der beiden Welten,
der physischen und der psychischen, und ihres Verhält-
msses zueinander.
Der Materialist löst dies Rätsel leicht, indem er das
Seelische als eine Eigenschaft, Wirkung oder ein Erzeugnis
des Physischen erklärt, womit aber zur Lösung im Grunde
gar nichts geleistet ist, sondern nur ein Wort das Rätsel
verdeckt.
Aber auch der Idealismus und Spiritualismus wußte
schließlich nicht viel über das Seelische zu sagen, und so
ist es eine eigentümliche Sachlage, daß das, was uns das
Allervertrauteste sein sollte, das Seelische — denn im Grunde
ist ja all unser Erleben zu allererst etwas Psychisches —
das allerfremdeste ist. Während wir in den Wissenschaften
der Physik und Chemie die physische Welt mit hoher Genauigkeit
erforscht und gemessen haben, ist das beim Psychischen
durchaus nicht der Fall, in dem Augenblick, in dem
wir es ergreifen wollen, zerrinnt es uns unter den Fingern
wie Wasser und verflüchtigt sich wie Rauch. Diese Un-
faßbarkeit ist denn auch mit ein Grund, daß das Psychische
nur als ein unwichtiges „Epiphänomen" angesehen wurde,
das man vernachlässigen könne. Man gelangte so schließlich
zu einer „Seelenkunde ohne Seele" und berücksichtigte
nicht das Seelische, sondern man sah nur die ihm zugrunde .
liegenden oder parallel gehenden Gehirnphänomene,
Wie schon erwähnt, leistete auch der Idealismus nicht
allzu viel zur Aufhellung der seelischen Welt, man sprach
von der individuellen Seele, von der Weltseele und der
überindividuellen Seele, ohne daß ihr Verhältnis zueinander
weiter aufgeklärt wurde und ohne daß klar wurde, ja ohne
daß auch meist nur die Frage erörtert wurde, wie das Verhältnis
des einzelnen seelischen Inhalts oder — ganz allgemein
verstanden — des seelischen ^Gegenstandes" zu
der Seele des Ganzen ist; was ist die einzelne Vorstellung?
Dauerte sie irgendwie, oder ging sie zugrunde? Wie ist
das Verhältnis der Einzelseele zum überindividuellen Seelischen
und wie ist schließlich das Verhältnis des überindividuellen
Seelischen zu den einzelnen seelischen Akten,
darf oder muß man auch in ihm solche Verteilungen
usw. annehmen, bleiben sie als solche bestehen usw.? Man
blieb bei solchen Fragen sehr im allgemeinen, erklärte das
Psychische für eine Substanz ohne aber weiter in die Fragen
einzudringen.
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