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438 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 8. Heft. (August 1922.)
Der erste in der modernen Philosophie, der diesen
Fragen näher trat und die einzelnen Vorstellungen verdinglichte
und vermittelst dieser einzelnen Dinge eine ganze
Seelenmechanik und -mathematik aufbaute, war Herbart,
und unter Herbartschem Einfluß stand auch der berühmte
Mathematiker Riemann, als er verwandte Gedanken
äußerte und gelegentlich davon spricht*), daß bei jedem
Denkakt etwas Bleibendes, Subbtanzielles in die Seele trete,
dabei träten neue „Geistesmassen" in die Seele, alles Denken .
sei eine Bildung neuer Geistesmassen. Von andern mir zufällig
bekannten Aeußerungen ähnlicher Art sei noch die
von Hebbel, des originellen Denkers, erwähnt, der einmal
schreibt (Tagebücher, 1. Aug. 1835): Gedanken sind Körper
der Geisterwelt, bestimmte Abgrenzungen des geistigen
Lichts, die nicht vergehen, da sie übergehen in die Erkenntnis
der Menschen. — Bei diesen Aussprüchen ist zu be
tonen, daß es sie mißverstehen hieße, wenn man die Worte
„Gedankenmassen" und „Körper" materiell verstehen wollte,
sie sind durchaus spiritualistisch gemeint. Aber auch auf
materialistischen Gedankengängen nahestehender Seite sind
ähnliche Meinungen ausgesprochen worden. C z o 1 b e hat
auf sensualistischer Grundlage die Ansicht entwickelt, daß
die Empfindungen eine den Atomen ähnliche Selbständigkeit
haben. Nur wenige Philosophen jedoch haben sich
darüber geäußert, meist begnügte man sich davon zu
sprechen, daß es jenseits der Natur ein Geistesleben gebe,
das unabhängig von der Materie sei und dem das Geistige
im Menschen angehöre, wie Eucken z. B. sagt. Auch
Driesch spricht von einem überpersönlichen Seelischen,
dem man Wissen und Willen zuschreiben müsse, ohne ins
einzelne zu gehen, wie die oben erwähnten Fragen zu beantworten
wären. Für diejenigen Philosophen, die die Ak-
tualitätstheorie der Seele vertreten, wie z. B. Wundt, füi
die es keine Seelensubstanz gibt und für die die Seele
ausschließlich in einzelnen Akten und Funktionen besteht,
ist das Problem in dieser Form natürlich gar nicht vorhanden.
Gerade dem Okkultisten muß es nahe liogen, derartigen
Gedankengängen nachzugehen, gerade auf seinem Gebiete
jjibt es Erscheinungen, die solche Ideen veranlassen könnten.
Schon die Telepathie könnte daran denken lassen, die Vor
Stellungen zu verselbständigen, scheinen sie doch ohne
materielle Vermittlung von einem Individuum zum andern,
von einer Seele zur andern übergehen zu können. Noch
mehr könnte die Psychoskopie solchen Ideen geneigt machen
*) Gesammelte mathematische Werke, Leipzig, 1876, vgl. auch Zöllner:
Vierte Dimension und Okkultismus; herausgegeben von Tischner. Leipzig
1922, S. 25-
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