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452 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 8. Heft. (August 1922.)
die Realität als erste Quelle der Unlust erkannt, so folgt bald die Erkenntnis
der zweiten Unlustquelle. Jeder Mensch macht Phasen durch,
während deren dieser oder jener Trieb als hinderlich für die Entwicklung
empfunden und darum verdrängt wird, um in irgendeiner
Ersatzbildung wieder zum Vorschein zu kommen. Und hier haben wir
nach Freud die zweite Quelle der Unlust zu suchen.
Das Prinzip der Lustgewinnung zeigt sich am Deutlichsten im
Traume. Was die Wirklichkeit uns versagt, muß der Traum uns erfüllen
. Freilich sind diese „Erfüllungen" für den Laien oft nicht als
solche zu erkennen. Sie verschleiern und verstecken sich hinter uralten
Symbolei1 und erfüllen gerade durch diese Verdunkelung wieder das
Prinzip Lust zu gewinnen: nämlich den Wunsch, seine eigenen tiefsten
Wünsche nicht bewußt werden zu lassen. Nun haben die Psychoaualv-
tiker beobachtet, daß Menschen, die im Anschluß an einen Unfall neurotisch
erkrankt sind, in ihren Träumen die Situation und Szene des
Lmfalles immer wieder reprodu/ieren. Wie stimmt das mit dem Gesetze
der Wunscherfüllung überein? Es will doch niemand das Entsetzen eines
Unfalles noch einmal erleben. Freud deckt auch hier das Gesetz des
Traumes auf. Der Mensch erkrankte neurotisch, weil der Unfall ihn ganz
um orbereitet traf. Nun holt der Patient im Traume diese Angstbereit-
schaft nach. Wäre sie im Leben vorhanden gewesen, so hätte diese ps\-
chische Einstellung auf den Unfall ihn zwar nicht vor diesem selbst bewahrt
, wohl aber vor der nachfolgenden neurotischen Erkrankung. Es
hätte als d sein Unfall nur körperliche Folgen gehabt und wäre mit der
körperlichen Heilung erledigt gewesen. Der an Unfailsneurose Erkrankte
aber steht bis zu seiner Gesundung unter dem Zwange der Wiederholung
.
Dieser Wiederholungszwang, den wir bei Kindern stark vertreten
finden, zeigt sich auch bei Patienten wrährend der psychoanai} tischen
Kur, *n welcher sie die Phasen ihrer Kindheit noch einmal durchmachen,
die seelisch noch nicht erledigt sind. Auch im Leben sogenannter Gesunde
** Briden wir den Zwang der Wiederholung. Ganze Lebensschicksale
werden unter diesem Zwange zerstört und aufgebaut. Dieser
Wiederholuügszwang hat in all seinen Aeußerungen den triebhaften
Charakter bewahrt. Nach Freud is1 ein Trieb „ein dem belebten organischen
innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustande
^ . . Der frühere Zustand des Erwachsenen ist das Kindsein.
Alle Neurotikei gehen bewußt und unbewußt in ihre Kindheit zurück.
Der frühere Zustand des Menschen-Daseins überhaupt ist das Nicht-Dasein
, also Tod. Freud zieht auch diese letzte Konsequenz aus seinen
psychologisch-philosophischen Forschungen: „Das Ziel alles Lebens ist
der Tod" und „Das Leblose war früher da als das Lebende".
Nun hatte Freud in früheren Arbeiten die Ichtriebe den Sexualtrieben
entgegengestellt. Die Ichtriebe dienen dem Ziele des Todes, während
die Lebenstriebe, die Sexualtriebe, der Erhaltung und Fortpllanzung
dienen und dem gesamten Triebleben Gegenarbeit zu leisten haben. Diese
Anschauung ist seit der Aufdeckung des Wiederholungszwanges nicht
mehr in diesei Form haltbar. Auch die Sexualtriebe wollen, wie Freud
jetzt nachweist, nichts weiter als den früheren Zustand wiederheistellen.
Plato läßt im Symposion Aristophanes erzähkn, daß einst noch ein drittes
Geschlecht gelebt habe. Diese Menschen waren doppelt, Mann und
Frau in einem. Zeus schnitt sie auf ihr Bitten in zwei Teile: „Als nun
auf diese Weise die ganze Natur entzwei war, kam in jedem Menschen
die Sehnsucht nach seiner eigenen anderen Hälfte, und die beiden Hälften
sehlugen die Arme umeinander und verflocnten ihre Leiber und wollten
wieder zusammenwachsen . . ." (Uebersetzung von Rud.
Kaßner.) Also auch hier im stärksten Triebe, dem Sexualtriebe, nichts
als ein Hindrängen zum einmal Gewesenen, und das letzte Gewesene ist
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