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Wittmann: Die Schau des Zukünftigen. 469
abhängigen Denkens vorzustellen. Dann mag uns wohl die
Möglichkeit einleuchten, mit einem Blick — einem lebenden
Bilde gleich — die Kausalitätsreihen und -Verkettungen
dessen zu überschauen, was unser an zeitliches und räumliches
Schneckentempo gewöhntes Bewußtsein Zukunft
nennt. Wir brauchen also durchaus nicht zu suchen nagh
einem anderen oder anders gearteten geistigen Zentrum, das
in blitzartig auftauchenden Intuitionen (wie beim Künstler)
uns besondere Erkenntnisse oder produktive Ideen zu vermitteln
hätte. Dieses ist vielmehr identisch mit unsrer sinnlichen
Geisteskapazität, nur daß es, weil unabhängig von dem
der Zeit und dem Raum dienstbaren Neurogliamechanismus
über die tief beschatteten Niederungen unserer sinnlichen
Denktätigkeit in kühnem Adlerflug hinwegzugleiten vermag.
Weit eindrucksvollere Beispiele noch als die traumpsychologischen
liefern die Tatsachen des natürlichen und
künstlichen Somnambulismus. So erzählt du Prel
von einem Gelehrten, der, unfähig, eine begonnene Arbeit
einem gewissen Abschluß entgegenzuführen, in somnambulen
Schlaf versinkt. Bei seinem Erwachen findet er die Arbeit,
von seiner Hand geschrieben, fertig vor sich auf seinem
Schreibtisch. Du Prel selbst fragt: „Mit welcher Art
geistiger Tätigkeit vollbrachte er dies ?u — Die Antwort kann
nach den obigen Darlegungen nur lauten: mit seinem normalen
Denkapparat, nur daß der ganze geistige Vorgang
einschließlich der Niederschrift infolge des somnambulen
Zustandes vor, statt innerhalb der Neurogliaschranke
sich abspielte. Daher ja auch die den somnambulen Zustand
geradezu kennzeichnende völlige Erinnerungslosigkeit,
mit der der Schläfer erwachte; in ihr liegt, da wir bereits
oben das Durchlaufen des Neurogliaapparates als die Grundvoraussetzung
unseres sinnlichen Gedächtnisses festgestellt
haben, eine weitere Bekräftigung der aufgestellten Behauptung
, daß es sich auch hier um eine vor dem Neuroglia-
apparat sich abspielende geistige Tätigkeit handelt.
Und nun die Kernfrage: Wie vollzieht sich der Vor-
stellungsablauf vor der Neuroglia? — Schon die sprachliche
Formulierung erregt Bedenken: was heißt überhaupt „vor*
der Neuroglia ? — Schon bei dem oben gezogenen Schnellig-
kcitsvergleich des sinnlichen Denkens mit dem übersinnlichen
erwies sich unser sinnlich orientiertes Sprachvermögen
als höchst unzulänglich, da z. B. der sinnliche Ausdruck
„blitzartig" im transzendentalen Sinne ein unerträgliches
Schneckentempo bezeichnen müßte. Eine ganz neue Ausdrucksform
unter Zugrundelegung eines verjüngten Maßstabes
von etwa 1 :1 000 000 wäre erforderlich, um auf diesem
Gebiet einigermaßen anschaulich werden zu können. Auch
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