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502 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 9. Heft. (September 1922.)
maßen psychometrische Beurteilung des Harns, wobei erstaunliche Angaben
über die Fähigkeiten einzelner Laiendiagnostiker gemacht werden
(z. B. sofortige Erkennung \on Geschlecht, Alter, Zahl der Kinder und
Krankheit beim Anblick des Harns).
Die hier im Auszug geschilderten Fähigkeiten okkulter Diagnostiker
und Heiler zu beurteilen, fällt dem in und zu ständiger Beachtung der
Erklärbarkeit, zum mindesten der Vorstellbarkeit, und des Kausalzusammenhangs
erzogenen Wissenschaftler sehr schwer. Das einfache
Beiseiteschieben ist ja das bequemste, aber das geht, wenigstens hirt-
sichtlich der mit psychometrischen Fähigkeiten zusammenhängenden
Erscheinungen nicht mehr, seitdem über diese so gute Beobachtungen!
und Untersuchungen, wie sie besonders W. v. Wasielewski gemacht hat,
vorhanden sind. Ob aber alles, was Surya über okkuhe Diagnostik und
besonders okkulte Therapie (Pendelheilungen!) vorbringt, genauerer
Prüfung standhält, bleibt abzuwarten. Daß eine wissenschaftliche Erklärung
der Phänomene zurzeit noch aussteht, ist an sich noch kein
Ablehnungsgrund; aber bei dem, was in so wesentlichem Gegensatz zu
dem allgemein angenommenen Weltbild steht und so wesentlich auch
in das Leben eingreift, wie für okkulte Medizin und okkulte Erscheinungen
überhaupt beansprucht wird, ist vorsichtige Stellungnahme geboten
. „Le premier principe de toute inve°tigation scientifique, c'est le
doute" sagt Claude B^rnard. Deshalb: wissenschaftliche, immer wieder
erneute Nachprüfung unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln.
Auf Band VI des Suryaschen Werkes, der die natürlichen Heilmethoden
vom okkultistischen Standpunkt aus beti achtet, soll nur noch
mit wenigen Allgemeinbemerkungen besonders eingegangen werden.
Band VI ist wesentlich kürzer als Band V, der die Diagnostik behandelt
— darin folgt also Surya dem Brauch der meisten schulmedizinischen
Autoren, obwohl für den Arzt und sonstigen Helfer wie
erst recht für den Kranken die Heilung des Leidens wesentlicher ist als
seine noch so scharfe Erkennung. Zunächst sei gesagt, daß nicht einzusehen
ist, weshalb vieles von Surya zur okkulten Medizin gerechnet
wird, was, durch unsere sonstige Naturerkenntnis schon längst erklärbar
, Allgemeingut der schulmedizinischen Lehrweise geworden» ist. Gewiß
, man kann sagen: „alles ist okkult, weil wrir den letzten Grund
der Erscheinungen nie werden erkennen können". Aber, wie aus dem
Zusammenhang hervorgeht, versteht Surya den Begriff des Okkulten
nicht in diesem Sinn. — Zweitens ist noch auf folgendes hinzuweisen.
Auch hier, wie in allen Werken, die aus irgendeinem Grunde gegen die
Schulmedizin angehen, werden die „natürlichen" Heilweisen in Gegen*
satz zu — welchen? den „unnatürlichen"? den „widernatürlichen"? —
sagen wir einmal den hauptsächlich offiziell gelehrten gestellt. Aber
gerade Surya, der die Einheit des Mikro- und Makrokosmos, der ganzen
Natur im weitesten Sinn immer wieder betont, darf gefragt werden:
gibt es denn andere als „natürliche" Heil weisen0 Weshalb soll denn
eine Arznei „natürlich", die andere „unnatürlich»*' *>ein? Man braucht
beim Standpunkt des Ref. duichaus nicht stets mit der ganzen —on—,
—an—, —in—, —yl — Chemie zu wirtschaften, vielmehr fänden z. B.
die Rezepte dieser Art, die Ref. m den \Qtztm zwanzig Jahren verschrieben
hat, bequem auf einem Aktenbogtln Platz; aber: ist der
Methylätber einer benzoylierten Methyltetrahydrobetaoxypropionsäurc
(die Substanz wird auch kürzer Kokain genannt), etwa um ihrei konstanten
Zusammensetzung und ihrer chemisch genau erforschten Konstitution
willen „widernatürlicher" als —- sagen wir — Schafgarbentee?
Oder Quecksilber widernatürlicher als Zittmannsche Abkochung? Ist
Digalen oder ein anderes Digitalispräparat das man im besonderen
Fall aussucht, um gewisse Nebenwirkungen der Gesamtdrogue auszuschließen
, unnatürlicher als Fingerhutaufguß? Schon im allgemeinen,
besonders aber bei einer stark betonten einheitliche*! Weltanschauung,
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