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512 Psychische Studien. XLIX. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1922.)
folg de s Lesens oder der Empfindung sofort
zunichte. Da Sie der Sitzung, die ich im metapsychischen
Institut von Warschau gegeben habe, beiwohnten, bin ich
sicher, daß die Leichtigkeit und Schnelligkeit, mit der ich
die beiden Briefe gelesen habe, der allgemeinen Harmonie
und der sympathischen geistigen Disposition aller anwesenden
Personen, die mir wohlgesinnt waren, zu verdanken ist.
Das ist, lieber Doktor, alles, was ich betreffs meiner
inneren Phänomene während meiner Experimente beobachten
konnte. Sie haben bemerkt, daß ich mich manchmal
täusche. Ich bin also noch weit von der Vollkommenheit
entfernt, aber hoffe, sie eines Tages zu erreichen. Glauben
Sie mir: Alles was ich Ihnen sage, ist das Ergebnis eines
gereiften Nachdenkens.
Mögen diese Zeilen Sie, lieber Freund, in Ihrem Werk
unterstützen. Es eröffnet einen großen Ausblick auf die
Zukunft.
Mit der Versicherung herzlichster Freundschaft
Stephan Ossowiecki."
Diese Beobachtung ist sehr wertvoll. Sie bestätigt uns
in unserer Meinung, daß das Hellsehen von sinnlichen Fähigkeiten
absolut unabhängig ist, daß es sich sogar allem verstandesmäßigen
Denken entzieht. Es ist mit der Hellsichtigkeit
genau so wie mit allen metapsychischen Fähigkeiten.
Sie ist nicht an die physiologischen Prozesse der bewußten
Intelligenz gebunden. Sie ist außerhalb jedes organischen
Gebiets. Sie hat nichts mit der Funktion des Neuro-Cerebral-
systems zu tun. Uebrigens erscheint uns die Hellsichtigkeit,
durch ihre wunderbare Macht, die sie tatsächlich von Raum
und Zeit unabhängig macht, als eine göttliche Fähigkeit.
Wie ein Strahl oder ein Zeichen der Göttlichkeit, das in jedem
menschlichen Wesen eingeschlossen ist.
Man wird ohne Zweifel einwenden, daß diese göttliche
Fähigkeit, wenn es eine göttliche wäre, praktisch unausnütz-
bar ist, da sie, einige seltene Ausnahmen ausgenommen,
sich unserm bewußten Willen entzieht und daß sie sich
ferner durch eine geistig höhere Tätigkeit manifestieren
würde, als es das Erraten von verborgenen Schriftzügen
oder das Wiederentdecken der verlorenen Gegenstände ist.
Für diesen Einwand gibt es eine doppelte Antwort:
1. Es ist für die Hellsichtigkeit von geringer Bedeutung,
daß sie im Zustand der Entwicklung ausschließlich unterbewußt
ist und sich nur bei gewissen Anlässen manifestiert.
Wir betrachten nicht ihre praktische Bedeutung, sondern
ihre philosophische. Und diese philosophische Tragweite
ist in der Tat unübersehbar. Das Hellsehen gibt uns,
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