http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1922/0540
528 Psydhische Studien. XLIX. Jahrg. 10. Heft. (Oktober 1922.)
zur letzten Ruhe zu geleiten. — Sind das nun Phantasien
eines Sterbenden gewesen oder hatte sein sich von der
irdischen Hülle befreiender Geist, im Gegensatz zu unserem
dreidimensional befangenen, bereits ein Bild gesehen, das
wir mit unseren körperlichen Sinnesorganen erst nach viermal
24 Stunden aufzunehmen imstande waren?
Am Vorabend meines Hochzeitstages sagte jemand zu
mir: „Träum* etwas recht Schönes!u Und was ich träumte
war whklich „recht schön": Der Brautzug bewegte sich
zum Hochaltar, aber vor demselben befand sich ein schwarzverhangener
Katafalk, der schnell weggeräumt werden mußte.
Nach geraumer Zeit erfuhr ich von dem plötzlichen Ableben
einer entfernten Verwandten, mit der meine Familie in keinerlei
Kontakt gestanden hatte. In der Kirche, wo ich um
12 Uhr getraut wurde, war früh eine Seelenmesse für sie
gelesen worden.
Es war in der zweiten Augusthälfte des Jahres 1902, als
ich auf einer weggeworfenen Obstschale ausglitt, mit dem
Schienbein an eine Steinstufe schlug und mir eine schmerzhafte
und langwierige Verletzung zuzog. Eines Nachts lag
ich schlaflos. Und wie ich so in die Dunkelheit starrte,
breitete sich meinem Bett gegenüber an der Wand eine
eigentümliche Helligkeit aus. Mein Blick suchte vergeblich
die Lichtquelle. Die Holzrouleaux waren fest geschlossen.
Kein noch so schwacher Schimmer drang von außen herein.
Auch war der rätselhafte Lichtschein grundverschieden von
jenen Reflexen, die der Mond odef eine Laterne zuweilen
in die Zimmer werfen. Am ehesten wäre er mit einem in
sich beweglichen Nebelfleck zu vergleichen gewesen, vielleicht
auch mit den fast lebendig wirkenden Staubbahnen,
welche die Sonne häufig zieht, nur daß seine Intensität diese
bedeutend übertraf. Was mir aber die Haare zu ßerge
steigen ließ, war das große schwarte Kreuz, das in die
Helligkeit wie hineingewoben schien. Ich riß mir .nit Daumen
und Zeigefinger die Augenlider auseinander. Es blieb
bestehen. In kalten Schweiß gebadet, tastete ich nach dem
Gashahn Licht! Licht, von lebendiger, .irdischer Leuchtkraft
! Jetzt erst war das Phänomen verschwunden. Probe-
weice drehte ich wieder ab. Tiefe Finsternis herrschte im
Räume. Ich ertrug sie nicht, nahm ein Buch und las bis
zum Tagesanbruch. Zeitig früh kam eine Depesche. Meine
innigstgeliebte Großmutter war gefährlich erkrankt. Ich
wußte, daß es keine Rettung gab und konnte nicht zu ihr
eilen. Um 3 Uhr nachmittags erhielt ich das zweite Telegramm
. Es war vorüber. —
Eine der vorerwähnten Erscheinung ähnliche hatte ich
zirka 12 Jahre danach, jedoch in abweichender Form. Ich
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1922/0540