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Hänig: Aus dem Leben einer Seherin
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absurde Idee?" protestierte er, „das sind Einbildungen, hier
ist doch niemand gestorben." Blick und Stimme merkte ich
aber wohl die Befangenheit an. „Du lügst, lieber Freund,"
dachte ich bei mir und betrieb meine Nachforschungen
weiter, die auch bald von Erfolg gekrönt waren. Ein geschwätziges
Stubenmädchen plauderte aus der Schule. Knapp
vor meiner Ankunft war eine herzleidende Frau, die das
Zimmer oberhalb dem meinen innehatte, an Schlagfluß verschieden
.
In die Kategorie der im Volksmunde mit „Anmelden"
bezeichneten Gruppe übersinnlicher, aber nichtsdestoweniger
sinnlich wahrnehmbarer Manifestationen verdient ein Ereignis
eingereiht zu werden, das sich am Sylvesterabend 19..
zutrug. Es kann 1907, 1908 oder 1909 gewesen sein. Die
unbestreitbar richtige Jahreszahl ist mir entfallen. Man verzeihe
mir diese Ungenauigkeit um der Wahrheit willen, an
die ich mich strikte halte.) Wir waren, mein Mann und ich,
bei dem Ehepaar St. eingeladen, liebenswürdigen Durchschnittsmenschen
ohne jedwede höherstrebende geistige
Note. Ihre Wohnung paßte prächtig zu ihnen. Das charakteristische
schablonenhafte Offiziersheim, dem nichts anhaftete,
was geeignet gewesen wäre, unheimliche Gedanken und
Vorstellungen zu erwecken.
Aus dem Leben einer Seherin.
Von H. Hänig (Würzen).
Es ist eine bekannte Tatsache (die viele Zeitgenossen
vergessen zu haben scheinen), daß das Leben der Völker
wie das Geistesleben überhaupt nicht logisch, sondern nach
psychologischen Grundsätzen verläuft: Wir haben vielfach
keine gradlinigen Entwicklungsreihen, sondern das Pendel
scliwingt von einem Extrem zum andern, so daß sich erst
allmählich gewisse Gesichtspunkte herausbilden, die dem
Ganzen erhalten bleiben. Eine derartige Schwenkung zeigt
die Geschichte des Okkultismus und im engeren Sinne die
des Spiritismus. Im allgemeinen lassen sich hier zwei Hauptetappen
feststellen: Die Zeit bis zu Aksäkows Hauptwerk
(jAnimismus und Spiritismus), die vorwiegend zur rein spiritistischen
Erklärung dieser Phänomene neigte, und die jüngste
Entwicklung, in der der Spiritismus mehr und mehr im
experimentellen Okkultismus aufgeht und in der die Hypothese
des Hellsehens jene ältere Anschauung zu vergangen
scheint. Man vergleiche das genannte Hauptwerk Aksäkows,
der sogar das Lesen verschlossener Briefe auf Einwirkung
von Geistern zurückführen möchte, mit Oesterreichs Buch:
„Der Okkultismus im modernen Weltbild", der das Hell-
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