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Lomer: Ein Doppel-Wahrtraum von Rathenaus Tod. 585
gleichen Zeit getaßt wurde, als der Traum erlebt wurde.
Haarscharf wird sich das nun zwar kaum feststellen lassen;
eine hohe Wahrscheinlichkeit aber besteht immerhin.
Dieser Umstand nun ist für die psychologische Erklärung
und Auffassung des Traumes von Wichtigkeit.
Wenn wir annehmen können, daß am 18. April oder ungefähr
um diese Zeit der Attentatsplan in den Köpfen der
Verschwörer zum festen Beschluß wurde, so wäre der Traum
ein hellsichtiges Erfassen jener Mordpläne im Symbolbilde,
unabhängig von den Schranken des Raumes; denn H., der
Wohnsitz Dr. A.'s, kommt als Versammlungsort der Verschwörer
nicht in Frage, liegt vielmehr mehrere hundert
Kilometer von dem mutmaßlichen Verschwörimgsorte (siehe
weiter unten!) entfernt. Um räumliches Hellsehen
also, um Telepathie im weiteren Sinne handelt es sich;
keinesfalls um bewußte oder willkürliche Uebertragung sei-
tens der Attentäter, die ja dem Träumer vollständig unbe-
kannt waren und überdies alles Interesse daran gehabt
hätten, daß keine Seele — wer es auch sein mochte —
von ihren Absichten vorzeitig erfuhr.
Was Dr. A. dabei sah, war nicht die Tat selber,
sondern das waren — dein Sinne nach — vor allem die
Gedanken der Täter. Daß sie als Symbol erschienen
, entspricht nur der wohlbekannten Traumtechnik, wie
wie wir sie aus Hunderten von Beispielen kennen. — Aber
noch viel mehr läßt sich aus der Traumsymbolik selbst
entnehmen. Gehen wir auf die einzelnen Punkte ein.
Auffallend ist der „große Turm" als Traumörtlichkeit.
Um so auffallender, als bekanntlich der Turm der Burg
Saaleck bei Kösen sich als Schlupfwinkel der Mörder
erwiesen hat, in dem man sie auch zur Strecke brachte.
Die Frage ergibt sich, ob dieser selbe Turm etwa als Ausgangsort
des ganzen Komplotts angesehen werden muß.
Erst bei Abschluß der Verhandlungen wird sich das feststellen
lassen.
Die „überlebensgroßen" Männer sollen in der Bildsprache
des Traumes einfach Männer von Rang und Bedeutung
darstellen. Sie liegen als „Leichen" auf einer
„langen Holztafel": die Holztafel gemahnt an einen Sektionstisch
, wie sie zur Obduktionszwecken üblich sind, —
ein Bild, das dem Träumer aus seiner medizinischen Vergangenheit
zweifellos geläufig war. Daß er im Traume
die Leichen „mitsezieren" soll, geht auch darauf. Gemeint
ist mit diesem bildlichen Ausdruck wohl die wissenschaftliche
Verwertung der ganzen Vision, wie ich
siehier — im Einvernehmen und unterRücksprache
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