http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1922/0599
Lomer: Ein Doppel-Wahrtraum von Rathenaus Tod. 587
fassung auch für jede Einzelheit eine ausreichende Er-
kläruni erlauben. Meines Erachtens bleibt damit in der
Tat nichts unerklärt. Selbst der Gedanke der Leichensektion
in Traum« 1 läßt sich einfach als ausmalende Konsequenz
der wahrgenommenen Attentatspläne verstehen, als
Konsequenz für die Person des Träumers. .
Bleibt noch die seelische Mechanik der hellseherischen
Traumwahrnehmung an sich mit ein paar Worten
äü streifen.
Als Grunderscheinung liegt die Tatsache vor, daß ein
Träumer hier die Gedankengänge räumlich weit entfernter,
ihm unbekannter Personen wahrgenommen hat. Man könnte
zunächst daran denken, daß vielleicht die Uebertragung
durch eine ihm bekannte Mittelsperson stattgefunden haben
könnte. Da man iedoch annehmen muß, daß die Pläne aufs
äußerste geheim gehalten worden sind, so verliert diese
Annahme durchaus an Wahrscheinlichkeit.
Wie hat man sich also den inneren Hergang der Vision
vorzustellen? — Dr. A. hat Dinge wahrgenommen, die er
durch Vermittlung der bekannten Sinne keinesfalls in sich
aufgenommen haben kann. Auch das vielzitierte „Unterbewußtsein
* ' kann für strenge Kausalforderungen nicht genügen
, wenn es präzise als „nichtbewußte Wahrnehmung
vermittels der Sinne", d. h. als Wahrnehmung, die unter
der Bewußtseinsschwelle bleibt und nur unter gewissen
Umständen ins Bewußtsein gehoben wird, begriffen
wird. Ich meine, das Wort „Unterbewußtsein" deckt nicht
die Totalität der ganzen Erscheinung.
Wir müssen davon ausgehen, daß es sich um Vorstellungsbilder
handelt, die gleichzeitig im Geiste
des Träumers und im Geiste der Attentäter
nebst Genossen gelebt haben. Der erstgenannte befand
sich, um diese Wahrnehmung haben zu können, in einem
veränderten Bewußtseinszustand. Die letztgenannten im gewöhnlichen
Wachzustand, wobei freilich zu bemerken, daß
auch in ihrem „schlafenden" Geiste der Attentatsplan weitergelebt
haben muß. Will man die Uebertragung erklären,
so muß man also einen Bewußtseinszustand annehmen, der
beide Teile — Träumer und Attentäter — gleichzeitig
umfaßt. Der gewöhnliche Wachzustand ist dies
zweifellos nicht. Jedenfalls aber kann es auch kein untergeordneter
, unterwertiger Bewußtseinszustand sein, sonst
würde er nicht solche hochwertige Visionen vermitteln können
. Es muß vielmehr ein seelischer Zustand sein, dessen
Reichweite das Wachbewußtsein ganz bedeutend übertrifft,
— ein überindividuelles Bewußtsein, in das der
Mensch unter gewissen Umständen, — Eignung, Schulung
38*
http://dl.ub.uni-freiburg.de/diglit/psychische_studien1922/0599