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594 Psychische Studien. XL1X. Jahrg. 11. Heft. (November 1922.)
um Versinnlichung und Symbolisierung von Undarstellbarem
handelt.
Denn welches ist die Rolle, die das Okkulte in der
Literatur vielfach spielt? Einem Sohn, der in die Fremde
gegangen ist, erscheint in einem Hellgesicht sein altes Mütterlein
in bitterer Armut, er geht in sich und kehrt zu ihr
reuemütig zurück und nimmt sich ihrer an; oder die verlassene
Jugendgeliebte erscheint ihm und er sorgt nun für
das hinterlassene Kind. Es handelt sich, wie man aus
diesen ganz schematisch berichteten Fällen sieht, um ein
ganz äußerliches oder auch um ein veräußerlich-
l e s Geschehen; entweder ist es wirklich die Erscheinung,
die erst das veränderte Handeln erzeugt, oder die Erscheinung
ist nur der Schlußstein einer inneren Entwicklung.
Im er st er en Falle ist von einer inneren, psychischen Entwicklung
überhaupt nicht die Rede, im andern Falle fehlt
jedenfalls die Aufzeigung der inneren Entwicklung, als
dessen Schlußstein man sich die sinnfällige, gewissermaßen
symbolisierende Erscheinung allenfalls gefallen lassen würde.
Das künstlerische Ergebnis ist in beiden Fällen nicht sehr
verschieden von einer Moritat auf dem Jahrmarkt, dem
Hintertreppenroman oder der Kinoromantik. Auch bei berühmten
Schriftstellern finden wir derartige Motive, die ich
kaum höher bewerten kann, wie z B. bei Oskar Wilde in
seinem Roman „Das Bildnis des Dorian Gray", in dem bekanntlich
ein Bild von Dorian Gray allmählich immer häßlicher
wird, je tiefer Dorian moralisch sinkt. Es ist also
hier ein Vorgang z. T. in die Sphäre magischen Geschehens
gerückt, den der Dichter psychologisch darlegen mußte, eine
recht billige Art, die Entwicklung von Gray darzustellen.
Seitdem der Okkultismus zum Tagesgespräch geworden
ist, mehren sich die literarischen Erzeugnisse, in denen
okkulte Motive, Vorgänge usw. eine Rolle spielen. Und
schon bricht ein junger Dramatiker eine Lanze für den
„Spuk im Drama" (Frankfurter Ztg. vom 19. 6. 21, Nr. 447),
er redet ganz allgemein der Verwendung 'der „Gegenspieler
des dritten Reiches4' das Wort. Er meint in feuilletonistischer
Verbrämung: „Die Dinge treten wieder in Erscheinung;
die Sterne greifen in das Geschehen ein, nicht beseelt,
nicht astrolog, nicht semibaft symbolisch; figürlich, lichtgeboren
, Eigenwesen sondert der Schatten sich von seinem
„Körper" und beginnt sein Leben gegen den Tyrannen,
der ihn „warf". Die Kleider, an denen mindestens solch
eigener Schein haftet wie an der Haut Geruch, entfernen
sich von ihren „Trägern" und machen „Leute". Oder
„machen" Kleider seine Leute? Die Larve entlarvt sich,
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