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II
gleiches offenbar auch von Gott annehmen, der doch des Alls
Kern und Seele ist; aus ursprünglicher Unbewußtheit müßte er
durch unsere Bewußtwerdung immer höherer Bewußtheit entgegenwachsen
und -reifen. — Aber das ist doch offenbar ein
Widersinn und eine Unmöglichkeit; denn wie soll man Entwicklung
und Ewigkeit in Einklang bringen? Entweder entwickelt
sich etwas — dann ist es zeitbedingt, muß einen Anfang
der Entwicklung nehmen, wie die Entwicklung auch ihr
Ende finden wrird; oder es ist etwas ewig, ohne Anfang, ohne
Ende, in wandellos wogender Harmonie* Ist aber Gott ewig
und die Entwicklung nur eine irgendwie bedingte Phase seines
Daseins — was, soll man annehmen, habe ihn urplötzlich
veranlaßt, in diese Entwicklung einzutreten; und müßte sie
nicht andererseits millionenfach beendigt sein in den unfaßbaren,
zahllosen Ewigkeiten, die doch schon hinabgesunken wären?
— Oder endlich: ist die Entwicklung nur Schein, nur eine Anschauungsform
unserer armen und kleinen Vernunft, sind Raum
und Zeit und Ursachengesetz nur in uns begründet, sagen nicht
das Mindeste aus über das wahre Wesen der Welt, das „Ding
an sich", Gott; und müssen wir uns also begnügen mit einem
entsagenden Ignorabimus, dürfen höchstens aus den Bedürfnissen
des Gemütes, den „Postulaten der praktischen Vernunft44 einen
unsicheren Schluß ziehen auf Gott, Unsterblichkeit und Freiheit?
Wie wir's auch drehen und wrenden: keine dieser Anschauungen
und Erklärungen kann uns befriedigen und genügen;
und am wenigsten vielleicht die letzte, so überragend an Verstandesschärfe
ihr Urheber, Kant, war und so machtvoll sie die
vergangenen Jahrzehnte beherrscht hat. Mehr und mehr drängt
sich uns doch die Erkenntnis ihrer Unzulänglichkeit auf; von
vielen anderen Berufenen war Wilhelm Wundt ihr entschiedener
Gegner,*) und neuerdings hat der Berliner Chirurg und Forscher
Carl Ludwig Schleich, sonst ein rückhaltsloser Bewunderer
Kants, durch Beobachtungen bei der Narkose an sich selbst
sowie an zahlreichen Versuchspersonen experimentell überzeugend
dargetan, daß Raum-, Zeit- und Ursachensinn verhältnismäßig
sehr späte Sprossen der seelischen Entwicklung
und uns keineswegs als Urbestandteile (a priori) angeboren
sind. Er folgert ausdrücklich daraus die Unhaltbarkeit der
grundlegenden Kantischen Erkenntniskritik, die er ebenso durch
Einsteins Entdeckungen und Berechnungen in Frage gestellt
glaubt (vgl. C. L. Schleich, Bewußtsein und Unsterblichkeit,
Deutsche Verlagsanstalt 1920, insbes. S. 43/44).
Nun hat Kant insofern recht, als Raum nicht das ist, als
was er unseren Sinnen erscheint, als ein Abgegrenztes, Hohles,
in dem nun die Dinge, Welten, Sonnen und Sterne ihr Wesen
haben. Sondern Raum ist (im Augustheft 1920 der „Psych.
*) Man vergleiche auch die scharfsinnigen Einwände von Messer, Geschichte
der Philosophie. IV. Aufl. Bd. IL S. 130 his 135.
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