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VII
sich die Staffelei ans Fenster, und in dieser ungewissen Beleuchtung
, die die weiße Fläche matt schimmern ließ, begann er zu
malen, gewaltsam konzentriert, die Zähne aufeinandergebissen,
eine dunkle Falte zwischen den Brauen. Wie lange er so geschafft
, wußte er nicht; endlich t?at er zurück und maß das Vollendete
mit den Blicken. Er stutzte und trat einen Schritt näher,
iimd «•ein Gesicht, in dem sich der angespannte Ausdruck für
Sekunden löste, verfärbte sich. War das eine Täuschung, ein
Trug seines überreizten, kranken Gehirns? Hier ♦ . . auf der
Staffelei . . . formten sich da nicht, von seiner Hand geweckt, die
Züge des Getöteten? Er zwang sich wieder zur Ruhe und Kälte,
tat, ein wenig wankend, einen weiteren Schritt vor und beugte
sich über das Bild, um es zu betrachten. Dann riß er es, von
einem Schauer durchschüttert, herab, legte eine neue Leinwand
auf und begann, indes eine fast fieberhafte Glut rasendster Erregung
in seiner Stirn aufstieg, von neuem zu malen. Es war
fast ganz dunkel geworden, aber er nahm sich nicht Zeit und
Mühe, Licht zu machen. Seine Augen, durch die grauenhafte
Angst* geschärft, durchdrangen die Dunkelheit, er arbeitete iu
einer tobenden, aufgepeitschten Hast, seine Hände flogen fieberhaft
, während es in seinen Schläfen schmerzhaft ruckte.
Endlich hielt er wieder inne und prüfte das Bild von neuem.
Die Dunkelheit hing jetzt wie ein dichter undurchdringlicher
Schleier vor seinen Augen, so daß er nichts sah. Er entzündete
die Lampe. In ihrem flackernden Schein, der die Staffelei
in den Bereich eines schwachen Lichtkegels brachte,
saugten sich seine Augen brennend in die bemalte Fläche. Nur
für Sekunden; dann ging es wie ein Schlag durch seinen Körper,
er brach gleichsam in sich zusammen, wurde schlaff, willenlos,
all die krampfhaft aufrecht erhaltene Spannung des Willens verflackerte
. Er machte einen torkelnden Schritt auf die Staffelei
zu und schlug mit der zuckenden Faust in die Leinwand, und
sinnlos, blind, rasend wütete er an seinem Werke, er zerfetzte
es in tausend Teile, die trostlos vom Rahmen hingen. Plötzlich,
mitten im Hieb, hielt er inne, er erstarrte gleichsam in der Bewegung
. Und brach stöhnend an der Staffelei zusammen.
(„Münchener N. Nachr." Nr. 247 vom 19. Juni 1920.)
Literaturbericht
Dr. Dietrich Heinrich Rerler: Die auferstandene Metaphysik. Eine
Abrechnung. Ulm, Verlag von Heinrieh Kerler, 1921. 296 S.
Der moderne Mensch mit seinem starken metaphysischen Bedürfnis,
ebenso aber der Fachphilosoph, der nicht die Zeit zur Originallektüre der
zahlreichen allerjüngsten Erscheinungen auf diesem Gebiet findet, verlangt
nach zuverlässiger Orientierung über die metaphysische Arbeit der Gegenwart
. Hier wird sie durch einen scharfsinnigen Kritiker und Originaldenker
geboten, dem Fachgelehrte ersten Ranges „psychologischen Scharfblick14
(Prof. Troeltsch), „hervorragende kritische Befähigung41 (Prot Drews),
"dialektische Virtuosität" (Prof. Kowalewski) nachrühmen und der sich
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