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II
heute in allen Erdteilen lebt und die ekstatische Empfänglichkeit überall
verbreitet und zu allen Zeiten nachzuweisen ist, dann fällt es schwer, zu
glauben, daß sie in jenen alten Ländern nicht vorhanden gewesen sein
soll. Später (S. 46) geht Verfasser auch auf die kirchlich-dogjmatische
Beurteilung der Ekstase ein. Er sieht richtig, daß hier das Problem
mit derri von der Inspiration zusammenfällt. Da heißt es u. a.: „Wenn
dann die altlutherisdhe Dogmatik die Lehre von der Verbalinspiration autgestellt
hat und die biblischen Schriftsteller zu bloßen calami (Griffeln),
amanuenses (Handlangern) oder Sprachrohren des heiligen Geistes gestempelt
werden, dann hat sie damit auch ihr Urteil über die Ekstase
der Propheten gesprochen". Wenn aber die ekstatischen Leistungen
Zwangsleistungen sind, nämlich Zwangsschauen, Zwangshören, Zwangsreden
, Zwangsschreiben, Zwangshandlungen usw., dann wird man doch
zugeben müssen, daß die altprotestantische Inspirationslehre mindestens
unter religionspsychologischem Gesichtspunkt nicht so ganz verfehlt war,
sondern die Sache eigentlich ganz genau traf. Nur kann man diese Art
der Entstehung nicht für die Heilige Schrift in ihrem ganzen Umfang
in Anspruch nehmen. Daß Visionen häufig nichts als literarische Kunstprodukte
(S. 58 ff.), die Propheten zu einem guten Teile Künstler und
Oichter (S. 61 f.) sind, wird vom Verfasser leider erst zum Schluß der
Arbeit hervorgehoben. Das hätte früher geschehen und ausgenützt
werden müssen. Denn wenn man als Psychiater die Ekstase der alt-
testamenilichen Propheten behandeln will, dann kann man sich doch
fraglos nur auf das geschichtlich echte Material beziehen. Wo das
Material Kunstprodukt ist, wird die Untersuchung gegenstandslos. •Die'
psychiatrische Beurteilung der Ekstase der alttestamentlichen Propheten
fällt leider etwas knapp und dürftig aus. Man hätte hier namentlich
eine eingehendere Untersuchung mit Hilfe der modernen Erkenntnisse
über die verschiedenen Arten der Visionen gewünscht. Die Verwandtschaft
der Ekstase mit der Hysterie wird aufgezeigt und besonders an
Ezechiel nachgewiesen (S. 48 ff.), ihre Aehnlichkeit mit deliranten Zuständen
bei dem älteren, noch undisziplinierten Prophetismus behauptet
(S. 51). Eingehender wird über die visionären Zustände der Propheten
gehandelt (S. 53 ff.). Die „besonders interessante Frage", „ob die von
den Propheten als göttliche Eingebungen geschilderten psychischen Erlebnisse
tatsächlich ihrem Bewußtsein als etwas Fremdes, Selbständiges,
von außen Kommendes gegenübergexreten sind" (S. 53), wird leider nicht
untersucht, ja nicht einmal kurz bejaht. Dagegen ist anzuerkennen, daß
die Illusionen für unsere Betrachtung ausscheiden (S. 53), jedoch das als
abschreckend angeführte Beispiel zu verteidigen. Verfasser hält es für „eine
redit oberflächliche, rationalistische Betrachtungsweise", „daß Mose in
der Wüste wirklich einen Busch geschaut habe und daß dieser auf dem
Wege der Illusion zu dem brennenden Busch geworden sei, aus dem
Jahwe selbst geredet habe". Der wirkliche Busch braucht nicht notwendig
preisgegeben zu werden, und doch erhalten wir damit noch
lange keine Illusion. Denn es gibt auch Wachvisionen, welche sich der
sonst wahrgenommenen, wirklichen Umgebung einpassen und sich daher
in ihr abzuspielen scheinen. Der Busch war der point de r^pere. Dieser
Gegenstand wird in der Tat gar nicht verkannt, sondern richtig erkannt
; der Sinnesreiz ist nicht unbestimmt, sondern ganz bestimmt.
Der Vorgang ist also — wenn überhaupt gesiehichtlich — als echte
Wachvision zu verstehen. Der Herieitung der Visionen aus den Erinnerungsbildern
der Phantasie (nach Wundt) wird man zustimmen; dagegen
ist fast alles andere zu beanstanden, was Verfasser im Anschluß
an Wundt über die Visionen im Alten Testament sagt. „Unter dem
Namen Visionen faßt er (Wundt) Erscheinungen zusammen, die teils
als echte Traumbilder, also im Schlafe, teils aber auch in Zuständen
ungewöhnlicher zentraler Erregbarkeit im Halbschlaf, in der Hypnose
oder bei wachem Bewußtsein eintreten, und die darin übereinstimmen,
daß sie mit voller Deutlichkeit Situationen, Ereignisse und Personen
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