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Daß die Basis des Lebens nicht ausschließlich in den
Organen liegt, sondern in einer unbekannten Lebensfähigkeit
, beweisen auch die Erscheinungen der Regeneration.
Einen besonderen Fall in der Lehre von der Regeneration
stellen kleine Seetiere — die Ascidien1) — vor.
Trennt man den Kiemenkorb der Ascidie vom übrigen
Körper ab, dann regeneriert er sich von der Wunde aus.
Manchmal aber verhält er sich auch ganz anders; er kann
sich zurückbilden, bis zu einer weißen Kugel, die nach
einer bestimmten Ruhezeit sich wieder zu einer neuen Organisation
umbildet. Diese neue Organisation stellt aber keineswegs
bloß etwa einen neuen Kiemenkorb dar, %wie dies zu
erwarten wäre, sondern eine sehr kleine, aber vollständige,
normale Ascidie. Wir sehen, daß ebenso wie ein Teil der
Blastula des Seeigels, ähnlich auch ein Teil der Ascidie
die Fähigkeit besitzt, einen ganzen Organismus zu bilden,
was gewiß kein mechanisches (Maschinen) System zuwege
bringt. Da keine Maschine denkbar ist, die selbsttätig ihre
Bestandteile ergänzen, oder gar eine neue, gleiche Maschine
hervorbringen könnte, müssen die Lebenserscheinungen als
autonom angesehen werden. Den wesentlichen nichtmechanischen
Lebensfaktor nennt Driesch „Entelechie". Die
Entelechie bedeutet demnach den Plan, die führende Idee,
die den Aufbau des Organismus leitet, die das Neue schafft
und das Ueberflüssige eliminiert. Die Formarbeit der
Zellen ist demnach nicht von räumlichen, vorstellbaren, teilbaren
physiologischen Größen, sondern von einer rein organischen
Konstanten abhängig. Die Klüftungs- und Fur-
chungsarbeit der Zellen verläuft so, als ob ihnen der Plan,
die Idee des Ganzen von vornherein bekannt wäre. Die
Entelechie schließt nicht die materielle Kausalität aus, sie
gesellt sich nur zum physikalisch-chemischen Geschehen,
welches sie leitet "und organisiert.
Die angeführten Erscheinungen sind Beweise für den
Vitalismus, für die Wirksamkeit eines nichtmechanischen
psychischen Faktors. Den Vitalismus kann man aber auch
logisch durch den Ganzheitsbegriff festlegen, den Driesch
in seinen logischen und philosophischen Werken „Ordnungslehre
" und „Wirklichkeitslehre'' behandelt.
Auch die neue Psychologie steht auf dem Standpunkt,
*) Die Ascidien gehören in die Klasse der Manteltiere. Sie haben
einen sackartigen Körper nnd leben festsitzend auf Steinen, Pflanzen oder
Seetieren; manche bewegen sich anch frei im Wasser. Ihr Mantel besteht
ans einer der pflanzlichen Zellulose ähnlichen Substanz. Der Körper enthält
eine Nervenverknotung (Gehirn), welche Nervenzweige zu den Muskeln,
Kiemen u. a, aussendet, ferner ein Herz (einfachen Sack), Magen, Darm usw.
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