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60 Psychische Studien. L. Jahrgang. 2. Heft. (Februar 1923.)
warum er denn diese Fragen an mich stellte. Nun berichtet
er folgendes. Am 24. November nachts war er in
Sch., einem nahe benachbarten preußischen Ort, in einer
Theateraufführung, da fühlte er mit einemmal jenes eigentümliche
spannende Gefühl, namentlich in Händen und
Fingern, das er bloß habe, wenn er irgendwie in die Ferne
wirke. Er sah sofort nach der Uhr, es war gegen V2II.
Er wußte, daß er irgendwie in die Ferne-wirke, doch konnte
er nicht merken, aufweiche Weise und wo. Nur habe er
gleich an uns gedacht, ob wir nicht vielleicht eine spiritistische
Sitzimg hielten und ihn riefen. Nun erzählte ich
ihm mein und meiner Frau Erlebnis, hatte aber das Datum
des Tages nicht im Gedächtnis. Zu Hause schlug ich
mein Tagebuch auf, in das ich damals gleich am Morgen
den Fall sorgfältig eingetragen: Tag und Stunde stimmten
genau. — Noch zu bemerken: in unserm Schlafzimmer ist
der Mann nie gewesen, weiß gar nicht, wo es liegt. Er
und wir wohnen an den entgegengesetzten Enden des Ortes.
2. Im August d. J. (1922) ging meüis Frau Himbeeren
suchen. Die Beerenernte war heuer sehr ertragreich, aber
die hiesigen Einwohner auch sehr eifrig im Sammeln, so
daß die gewohnten Orte immer sehr Abgesucht waren.
Meine Frau geht früh um 9 Uhr in einen mehr als eine
Stunde entfernten Wald, wo sie im vorigen Jahr schon,
zum erstenmal, mit Erfolg gewesen ist. Mir ist dieser
Wald ganz unbekannt. Aber diesmal findet sie so gut wie
alle Sträticher bereits abgelesen. Sie geht in dem schönen
Walde weiter, kommt auf eine Waldwiese an eine vom
Sturm oder Blitz geknickte Buche, wo sie voriges Jahr
noch nicht gewesen war. Auf der Suche nach Beeren
kommt sie merkwürdigerweise immer wieder, viermal hintereinander
, an dieselbe Buche, und meint zunächst allemal,
es sei ein anderer, ganz ähnlicher Baumstumpf. Aber gleich
vom erstenmal an hat sie das deutliche Gefühl, es sei dort
jemand. Sie geht um den Baum herum, sie sieht hinter
andere Bäume, als ob sie dort, verborgen, jemanden entdecken
müßte. Beim viertenmal nimmt *sie sich vor, sich
jener unsichtbaren Führung ganz passiv anzuvertrauen. Sie
schreitet willenlos nach einer ganz anderen Richtung. Während
des Gehens kann sie es nicht unterlassen, etlichemal
Versuche zu machen, nach rechts oder links abzuweichen,
aber jedesmal fühlt sie sich durch eine Kraft förmlich gedrängt
und geschoben nach 'der bestimmten Richtung hin.
Sie kommt an eine ihr völlig imbekannte Stelle uncf hat
plotzfich das Gefühl, sie werde nicht mehr geführt, sie sei
allein. Sie bleibt stehen, tut ihren Rucksack ab und will
^twas essen — es ist bereits nachmittag. Da sieht sie rings-
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