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146 Psychische Studien. L. Jahrgang. 4. Heft. (April 1923.)
Zunächst: Was ist eigentlich Kunst? Eine Definition, d. h. eine
Bestimmung, worin die sämtlichen Merkmale zusammengefaßt
sind, ist nicht leicht. Mir scheint es am richtigsten, so zu definieren
. Kunst ist die den Sinnen zugängliche, menschliche
Schöpfung, deren Bedeutung es ist, Ewiges in die Erscheinung zu
bannen. Kunstschaffen ist die Tätigkeit, die zu solchem Endziel
führt. Ihr Zweck ist es, allen Erfüllung ihrer Sehnsucht nach dem
Ewigen zu geben, die sie allein nicht gestalten können. Als Mittel
ist ein jedes recht, wenn es nur den Sinnen zugänglich ist und
den Zweck erfüllt.
Alles das sind Bestimmungen, unter denen sich etwas sehr
Reales denken läßt. Nur „das Ewige" macht eine Ausnahme. Aber
jeder, der Kunst liebt, der mystischen Dingen zugänglich ist, weiß
sofort, was ich meine. Es ist das Unbegreifliche, nicht zu deutende
, nui zu fühlende, das, was wir in uns und in allen Wesen,
ja in der gesamten Schöpfung wohnend wissen, was ihr Kraft und
Seele gibt: die Idee der Dinge (Plato), das Ding an sich (Kant),
das ewige Wesen, das dämonische, die Mütter (Goethe), der Weltatem
(Rieh. Wagner). Gefühl ist alles, Name Schall und Raucht
Der wahre Künstler weiß es auch aus der eigenen Erfahrung,
daß dem so ist. Er ist sich dessen bewußt, daß seine Schöpfung
nicht auf Kombination, nicht auf scharfsinniger, logischer Analyse
beruht. Es ist etwas Geheimnisvolles in ihm. Und aus diesem
Geheimnisvollen fließt sein Schaffen. Der Künstler glaubt, In-
spirationea unterworfen zu sein, er fühlt sich als das Werkzeug
eines höheren Wesens. Wie dieses befiehlt, so muß er schaffen.
Goethe war überzeugt, daß die Erscheinungswelt in ihm gewissermaßen
im kleinen vorgebildet lag. Die äußere Welt war ihm nur
Anlaß, Tatsachenmaterial, Leben und Blut aber gewannen seine
Werke durch eine geheimnisvolle Kraft, die aus ihm sprach,
durch den ümeren Mikrokosmus, der vor aller Erfahrung in ihm
war und sich durch den Schöpfungsakt in Erscheinung umformte.
So sprach er einmal (Juni 1831) zu Eckermann davon, daß den
Künstler der dämonische Geist seines Genies in der Gewalt habe,
so daß er ausführen müsse, was jener gebiete. „Poesie ist Ein-
gebung- sagt er in Wahrheit und Dichtung, und ähnliches mehr an
vielen anderen Stellen. Der geniale Mensch ist eben ein Exponent
, ein Krafteentrum der ewigen Fülle. Durch seinen Mund
spricht der ferne geahnte Geist in unserer Sprache zu uns. Selbst
ohne Raum, ohne Zeit, überall und ewig, zeigt er sich unseren
Sinnen, daß wir alle ihn erkennen und beglückt den dornenvollen
Weg des leiderfüllten Lebens gehen. So ist es uns denn bei der
Betrachtung großer Kunstwerke, als stünden wir einem Lebendigeln
gegenüber, das einer rationalen Auflösung nicht zugänglich
ist. Daher das Sinn- und Wertlose alles Geredes über Kunst-
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