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288 Psychische Studien. L. Jahrgang». 6. Heft. (Juni 1923.)
Mißbildungen, Defekte nach Operationen, isolierte Lähmungserscheinungen
, merkwürdigerweise $uch Zahnschmerzen
, ferner aus technischen Gründen solche Fälle, die vielerlei
unbestimmte und undefinierbare Beschwerden aufweisen, die
sich daher nicht scharf identifizieren lassen, endlich auch
komplizierte Spezialbefunde an Auge und Ohr, die detaillierte
anatomische Kenntnisse voraussetzen.
Es ergibt sich so die paradoxe Erscheinung, daß die
Differentialdiagnosen, die dem Praktiker große Schwierigkeiten
, namentlich in ursächlicher Hinsicht, bereiten, von
der Versuchsperson mühelos gestellt werden (gleichviel ob
es sich um Nah- oder Ferndiagnose handelt^, während die
scheinbar einfachsten Aufgaben, z. B. Lokalisation eines
nicht juckenden oder schmerzenden Ausschlags oder eines
durch Nadelstich verursachten Schmerzes größte Schwierigkeiten
machen. Unter Umständen hilft sich die Versuchsperson
in solchen Fällen dadurch, daß sie den Befund
telepathisch, d. h. optisch oder begrifflich, anstatt direkt
telästhetisch auffangt. Dies geschieht aber unbewußt und
kann auf dem Umweg über den Fragesteller oder sogleich
von dem Patienten auf das Medium erfolgen. Doch auch
dann, wenn Telepathie selbsttätig als Ersatzleistung an Stelle
des normalen Hellfühlens (wobei das krankhaft gestörte
Organbewußtsein des Patienten vom Organbewußtsein der
Versuchsperson unmittelbar aufgefangen wird) eintritt, zeigt
sich die Diagnose nie als direktes optisches Bild odei
als Begriff, sondern stets als subjektive Organempfindung,
die vermutlich von der Großhirnzone, die als Empfangsstation
gedient hat, ähnlich wie bei Hysterie in das periphere
Organbewußtsein projiziert wird.
Immer ist die Medialdiagnose ein subjektives trieben
am eigenen Körper, während die ärztliche Diagnose die
lAnalyse tatsächlicher Feststellungen am fremden Objskt
darstellt. Beide sind somit in ihrer Entstehung, ihrem Wesen
Mnd ihrem Ausdruck diametral verschieden, und können
nicht ohne weiteres in Vergleich gesetzt werden. Vielmehr
muß die Medialdiagnose erst in die ärztliche Denk- und Aus-
drucksweise übersetzt werden, bevor man beide miteinander
vergleichen und identifizieren kann. Es ergibt sich auch
hieraus die Selbstverständlichkeit, daß, solange die Ver-
suchsperson noch nicht Arzt ist, ihre Befunde der ärzt-
liehen Nachprüfung als Ergänzung bedürfen, wenn anclers
sie medizinischen Wert haben sollen. Der Endpunkt dar
ganzen Entwicklung ist erst dann erreicht, wenn ärztliche
Erfahrung und hellseherische Intuition sich bei der Versuchsperson
in so idealer Weise ergänzen, daß ihre Diagnosen
die Sicherheit und Präzision pathologisch-anatomischer Be-
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