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356 Psychische Studien. L. Jahrgang. 8. Heft. (August 1923.)
gen .und innerer Vorstellungen abgewendet,
alle Gefühlsregungen verbannt und das Wohl-
wollen, die fühlende und helfende Bruderliebe
erweckt hat, im vierten Zustand der religiösen Versenkung
die Fähigkeit zur Erkenntnis fremder Herfen, Kardiognosie,
zum „Wunder der Auskunft" erlangt. Er hat die Macht, den
sittlich religiösen Zustand «anderer Menschen zu erkennen und
die tiefsten Geheimnisse des Herzens zu offenbaren. Die Dia*
krisis pneumatos, welche schon Paulus unter den Charismen im
ersten Korrintherbrief 12, 10 aufzählt und wofür J. Hörmann und
S. J. Zahn verschiedene Beispiele anführen, ist gleichbedeutend
mit Kardiognosie und Seelischem Erfühlen".
Wenn der Mensch „G o 1t" als ein außer und über ihm stehendes
selbstbewußtes, geistiges Wesen mit allen Eigenschaften der
Vollkommenheit, als Inbegriff des Wahren und Weisen, Guten
und Reinen, Schönen und Harmonischen anerkennt, an das
Wirken eines solchen höchsten Wesens glaubt und sich v e r-
schließend gegen die Reize der Sinnenwelt und
inneren Triebe in liebevoller Hingabe und inbrünstiger
Gebetsversenkung mit ihm verbindet, so
halte ich auch dieses Geschehen für ein „Einfühlen", welches
göttliche Eigenschaften in der menschlichen Seele zur Auswirkung
kommen läßt.
„Glaube", ist auch hier nicht im Gegensatz zu „Wissen",
sondern als eine ideenverwirklirihende psychische Triebkraft wie
der „Wille" aufzufassen. (Wer ohne jedes Zweifeln an eine
höhere Führung auf dem Wege des Lebens glaubt, der wird
geführt.) Oskar Kolinstamm, der eine Einteilung des sog.
„Unterbewußtseins" in verschiedene Schichten gegeben
hat, nimmt an, daß die tiefste Schicht über das Individuum
hinausgreift, einer überpersönlichen Sphäre angehört und ohne
Mitwirkung der Sinne und des Verstandes, die
dem „Oberbewußtsedn" zuzurechnen sind, unmittelbar und
ohne Irrtum erkennt. Dieses tiefste „Unterbewußtsein"
setzt er dem „reinen Subjekt des Erkennens" der Philosophen
gleich, hält es verwandt mit dem Gewissen und behauptet,
daß es „frei von wilden Trieben mit jedem ungestümen Tun"
ist, daß es sich unter dem Gesetz von Logos, Ethos und
Eros entfalte und in ihm die Liebe zu aller lebenden
Kreatur, das Göttliche, wurzele.
Der Vorgang des Erfühlens, wie ihn die Versuchspersonen
übereinstimmend beschreiben und bei telepathischen Wachträumen
und Ahnungen erkennbar ist, hat eine auffallende
Ähnlichkeit mit Johannes Volkelts Darstellung der „Inspiration
", einer Steigerung der „Intuition". „Bei der
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