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422 Psychische Studien. L. Jahrgang. 9. Heft. (September 1923.)
„Warum ziehst du jetzt eigentlich immer den grünen Anzug an,
und nicht einmal einen anderen, zum Beispiel den Marengo-
Anzug?" Und dies, ohne* daß etwa eine Unterhaltung vorangegangen
wäre. Nun kann vielleicht der berufsmäßige Skeptiker
immer noch einwenden, daß meine Frau mich ein paar
Tage lang in demselben Anzug gesehen habe, und darum auf
den Gedanken gekommen sei, ich möchte einen Wechsel in der
Garderobe eintreten lassen. Aber das erklärt nicht das Aussprechen
des Gedankens fast gleichzeitig mit dem meinigen und
vor allem nicht die übereinstimmende Form, denn es lag für
sie gar keine Veranlassung vor, ebenfalls an den Marengo-Anzug
zu denken. Bleibt für den Skeptiker nur die achselzuckende
Bemerkung „Zufall". Als tückischer „Zufall" ist auch bisher
immer das bekannte Examenserlebnis« angesehen worden, daß
jemand eine Frage, die er besonders fürchtet, im nächsten
Augenblick vorgelegt bekommt. Wogegen ich, wrie ich schon in
den P. S. 1921 anführte, der Meinung bin, daß hier gerade die
Affektbetonung und der eingeengte Bewußtseinszustand den
Boden für eine telepathische Uebertragung vorbereiten. Und
ebenso glaube ich das bei der nicht minder bekannten Tatsache,
daß jemand eintritt, von dem gerade gesprochen wird, Telepathie
mit im Spiele ist. Der Zusammenhang ist dabei natürlich
so zu denken, daß die vorauseilenden Gedanken des Ankömmlings
das Gespräch beeinflußt haben.
Während so die unbefangene Beobachtung des täglichen Lebens
bereits zugunsten der Telepathie spricht, wartet die Wissenschaft
immer noch auf den experimentellen Beweis. Sie übersieht
dabei, daß dieser Hinweis soxmdsooft geführt ist. Im Jahre
1886 hat der bekannte Philosophie-Professor Max Dessoir sieh
dahin ausgedrückt (Sphinx, Band 2, Seite 248): „Bei den vorstehenden
, sowie ferner anzustellenden Experimenten kommt
es nicht mehr darauf an, die Tatsache übersinnlicher Gedankenübertragung
zu beweisen, es handelt sich jetzt nur noch darum,
die Bedingungen solcher Uebertragung festzustellen." Und ähnlich
drückt er sich auf Seite 259 des ersten Bandes vom nämlichen
Jahrgang aus*). Den<n daß es sich bei diesen Versuchen
weder um beabsichtigte nooh um unbere€htigte Täuschung handeln
konnte, mußte Dessoir am besten wissen —, da er selber
der Gedankenempfänger war.
Trotzdem ist Dessoir, als die Anerkennung der Telepathie
sich nicht Bahn brach, von diesem positiven Standpunkte wieder
heruntergeglitten, und nimmt in seinem Werke „Vom Jenseits
der Seele" die Stellung eines wohlwollenden Skeptikers ein.
In der Nummer vom 25. Juni 1921 der „Woche" spricht er da-
*) Für freundliche Ueberlassung des Bandes bin ich Herrn Rechtsanwalt
Dr. Bohn zu Dank verpflichtet.
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