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424 Psychische Studien. L. Jahrgang. 9. Heft. (September 1923.)
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wie es auch Dessoir in dem erwähnten Aufsätze in der „Woche"
getan hat. Nur behaupten auch viele von diesen überzeugten
Forschern immer noch, daß die Telepathie etwas für uns zurzeit
völlig Unerklärbares sei. So sagt zum Beispiel Giese, Fachleiter
des Provinzialinstituts für praktische Psychologie in Halle, in
seinem „Psychologischen Wörterbuch" (Teubner 1921): „Eine
Erklärung der Erscheinung, die wohl nicht mehr bestritten
werden kann, ist bis jetzt nicht erfolgt." Dieser Ausspruch beweist
mir, wie schwer es heutzutage ist, seine Ansichten in der
Literatur durchzusetzen, wenn /man nicht immerfort über denselben
Gegenstand dieselben Thesen schreibt. Ich habe meine
Ansicht über das Zustandekommen der Telepathie in meiner
1920 bei Bergmann erschienenen Schrift „Suggestion, Hypnose
und Telepathie" dahin niedergelegt, daß die Telepathie die Teilerscheinung
eines allgemeinen Gesetzes ist, wonach sich die
Gedanken auch innerhalb desselben Gehirns ohne unmittelbare
räumliche Verbindimg der Nervenbahnen, vielmehr nach Art der
elektrischen Induktion fortpflanzen. (Vergl. auch „Ps. Stud."
1921. Dabei bin ich des weiteren der Ansicht, daß es nur
einen einzigen Bewußtseinsinhalt (keinen geschichteten) gibt,
aus dem ein inneres Sinnesorgan, das ich Oberbewußtsein nenne,
einen jeweiligen Ausschnitt auffaßt. Diese Auffassung kann dann
ebensogut erfolgen, wrenn der Gedanke oder der Sinneseindruck
in einem Gehirn ursprünglich entstanden oder von einem anderen
auf dieses zweite übertragen ist. Für diese Übertragung
spielt es an sich keine Rolle, ob das Oberbewußtsein des ersten
Gehirnes gerade auf den Inhalt des Gedankens eingestellt war
oder nicht. Diese meine Auffassung, die hier nur angedeutet,
in den erwähnten Schriften jedoch näher begründet ist, mag man
bekämpfen, wenn sie nicht einleuchtet — aber bitte, mit Gründen,
nicht mit einfacher Ablehnung —; nur soll man nicht versuchen,
sie totzuschweigen. Folgt man ihr aber, so wird neben manchem
anderen auch das verständlich, worüber bis jetzt in Theorie und
Praxis noch immer gestolpert wird, daß eine Vorstellung telepathisch
übertragen werden kann, ohne daß der betreffende Geber
im Augenblicke an sie gedacht hat. Das ist keine Theorie, das
ist eine Tatsache. Als Beweis will ich zwei gut beobachtete unil
beglaubigte Fälle anführen. Die verwitwete Frau Dr. B. in
Breslau (nebenbei bemerkt die Versuchsperson mit dem Metall-
draht), eine sehr kritische und zugleich wissenschaftlich interessierte
Dame, erzählte mir von einem Falle automatischen
Schreibens, bei dem das. durch eine fremde Dame geführte
GJas plötzlich den Namen Otto Be . . . zu schreiben anfing. Das
Weiterschreiben verhinderte der damals noch lebende, mit anwesende
Gatte der Frau Dr. B., der das Glasi mit den Worten
„Ach Unsinn" oder so ähnlich einfach fortnahm. Erst nach dem
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