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432 Psychische Studien. L. Jahrgang. 9. Heft. (September 1923.)
alphabets /sehen wollen. Ich glaube weit eher, da ich den niederen
Tieren! nicht einen größeren Verstand als den höheren
zutrauen kann, daß es sich um Telepathie, und zwar um Kontakt-
telepathie handelt. Diese erlaubt es den Tieren, ihre primitiven
Gedanken unmittelbar aufeinander zu übertragen. Wie anders
als durch Telepathie soll man sich die oft über weite Strecken
blitzschnell erfolgende Verbreitung von Nachrichten in der Tierwelt
erklären? Auch da, wo die Weitergabe durch Laute für
die Individuen wegen Herbeilockung der „Konkurrenz" gar kein
Interesse hat. Will man hier die Telepathie leugnen, so muß
man dafür eine Sinnesverfeinerung annehmen, die nicht minder
wunderbar wäre. So berichtet der verstorbene bekannte englische
Feldmarschall Lord Roberts in der 1904 an Berlin bei Karl
Siegismund erschienenen Übersetzung seines indischen Feldzuges
, daß, als im Norden Indiens viele Tierkadaver die Straßen
bedeckten, Geier und andere Aasvögel aus den entferntesten
Gegenden Indiens erschienen seien (Seite 141) und fährt dann
fort: „Adjutanten", die in normalen Zeiten niemals in höheren
Breiten Bengalens gesehen wurden, erschienen zu hunderten und
taten wirklich gute Dienste im Vertilgen der Kadaver."
Aber noch mehr. Bs gibt Experimente, die das Vorhandensein
der Telepathie bei niederen Tieren unmittelbar erv eisen.
Deegener hat in eimean Aufeafee im „Kosmos" 1919 Heft 8 über
„Studien an einfachen Tiergesellschaften" berichtet. Als Versuchstiere
diente eine Gesellschaft von Raupen des Schmetterlings
Phalera bueephala, des Mondvogels. Der Berichterstatter
beobachtete, daß, wenn er eines der gemeinsam lebenden Tiere
durch Berühren sedner Haare beim Fressen störte, auch die
übrigen mit «dieser Beschäftigung aufhörten. Ja, er konnte beobachten
, wie bei der Berührung eines Individuums der in Ruhe
befindlichen, Gruppe die ganze Gesellschaft zusammenzuckte.
Auch im ungestörten Zusammenleben der Tiere spielt nach Ansicht
des Beobachters die Gemeinsamkeit der Empfindung eine
Rolle, indem nur sie es den Tieren ermöglicht, zusammenzubleiben
bzw. nach erfolgter Trennung sich wieder zusammenzufinden
. Denn ihr Gesichtssinn soU nicht weiter als einen Zentimeter
reichen und eine andere Sinnestätigkeit hierfür nicht in
Betracht kommend
Tischner hat In seiner „Einführung in den Okkultismus" (Bergmann
, 1921) und in Sonderaufsätzen („Psych. Stud." 1919) die
geistreiche Hypothese aufgestellt, daß manche unerklärlichen,
gemeinhin als „Instinkt" bezeichneten Verrichtungen von Tieren,
namentlich niederen Tieren (Insekten) auf räumliches und zeitliches
Hellsehen beruhten. Er hat dann an der Hand dieser
Beobachtungen die Frage aufgerollt, ob das Hellsehen eine sich
ausbildende oder rückbüdende Eigenschaft sei. Ich muß es mir
versagen, in diesem Zusammenhange auf die Frage des Hell-
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