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532 Psychische Studien. L. Jahrgang. 11. Heft. (November 1923.)
danke, daß dieses Wesen, das über der Kindheit meines Vaters gewacht
natte, sich nun unserer, meiner Kinder annehmen wollte. Wir
spiachen an diesem Abend viel von dieser Tante, und es erschien mir
seltsam, daß Frau S., die wie gesagt, von unserer Familie keine Ahnung
hatte. alt>o auch von der Existenz dieser Tante nichts wissen konnte, diese
mir lange aus dem Gedächtnis gekommene Episode, deren ich mich
erst durch den Besuch der Frau S. wieder erinnerte, an das Licht £og.
Mein Vater war 1820 geboren, die Tante Minchen war bei seiner
Geburt etwa 25 Jahre gewesen, also auch die Zeit stimmte für den
„altmodischen" Anzug.
Ob man nun an die Möglichkeit einer Mitteilung Verstorbener durch
„Medien" glaubt oder nicht, jedenfalls erschien um allen diese Tatsache,
die wir durch Frau S. erlebten, außerordentlich unverständlich.
Um so seltsamer und tiefer berührte es mich und uns alle, als
zwei Tage später Frau S. wiederkam und uns sagte, Tante Minchen
sei wieder bei ihr gewesen, glücklich darüber, daß die Anknüpfung
mit uns erfolgt sei; aber sie habe Frau S. erklärt^ sie seiäiicht „die"
Tante Minchen, sondern eine andere, und zwar sei sie eine Schwester
meines Großvaters. Ich war hierüber betroffen. Von einer
Schwester meines Großvaters hatte mein Vater nie gesprochen. Ich
sagte das auch Frau S., die aber sagte, daß sie das nicht ändern könne,
jedenfalls haoe „Tante Minchen" dies behauptet.
Ich lahm den Stammbaum meiner Familie vor und — merkwürdigerweise
— fand ich da die Tatsache, daß mein Großvater tatsächlich eine
Schwester hatte, „Wilhelmine Keil", geboren 1786, gestorben 1828, also
in einem Jahre, in dem mein Vater erst 8 Jahre alt war. So war die
Eiinneiung an diese Tante nicht auf uns Kinder gekommen.
Ich betone, erst durch den Vorfall mit Frau S. habe ich von der
Existenz dieser Tante meines Vaters Kenntnis bekommen, ich hatte
bis dahin nie von ihr sprechen hören. Auch in unserer Chronik ist
sie nur, die sie unverheiratet starb, kurz mit Namen genannt. Woher
konnte Frau S. dieses wissen? Woher kam sie auf die Schwester meines
Großvaters, von deren Dasein 'ich selbst und niemand in meiner Familie
etwas wußte?
Und noch weiter Merkwürdiges: Diese Tante Minchen hatte Frau S.
erzählt, wo sie gelebt hatte, und genau das Haus beschrieben, mit hohem
Giebel und großem Garten, breite Straße vorbeiführend, tief eingerissener
Bachgrund usw. Frau S. behauptete, in dem Zustande des Tages vorher
, in dem sie Tante Minchen gesehen habe, auch dieses Haus deutlich
vor sich gesehen zu haben. Im Laufe des Abends zeigte ich ihr eine
Anzahl Bilder, worunter ich eins gelegt hatte, das das Haus meines
Gioßvaters, die Pfarre in Pappendorf bei Freiberg in Sachsen, darstellte.
Als- dies Bild kam, sagte Frau S.: „Das ist das Haus, in dem Tante
Minchen gewohnt hat." Ich hatte, der Beschreibung nach, schon gewußt,
daß es diese Pfarre war, die Frau S. mit unglaublicher Deutlichkeit der
ganzen Lage und Umgebung nach genau darstellte. Da mein Urgroßvater
1818 starb, hat aller Wahrscheinlichkeit nach „Tante Minchen", die
nicht allein in Dresden wohnen konnte, die Jetzten Tage ihres Lebens,
1818 bis 1828, hauptsächlich in dieser Pfarre zugebracht.
Diesem Bericht ließ Oberst Kell am 18. November 1922 noch einige
Zeilen folgen. Er schrieb: In Ergänzung meines Ihnen gesandten kurzen
Beliebtes, „Tante Minchen" betreffend, füge ich noch folgendes hinzu:
Frau Oberstleutnant Schreiber sagte mir Anfang Februar, daß sie
•die Gestalt, die sich sehr häufig zeigte, so deutlich sähe, daß sie in der
Lage zu sein glaube, sie im Bilde festzuhalten. Am 18. Februar brachte
sie eine Zeichnung. Es ist geradezu frappierend, die Aehnlichkeit der
Dax gestellten mit einer Nichte von mir festzustellen, die in Dresden lebt,
und die Frau S. nie gesehen hat. Diese Nichte, Ada Kell, hat für
den reinsten Typ der „Keils" gegolten, eines Typs, der sich, wie man
an den vielen alten Familienbildern, die wir haben, sehen kann, immer
-wieder in markanten Zügen wiederholt — seit Jahrhunderten. Jedenfalls
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