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lebens zu entschleiern, ist er wieder mehr in den Vordergrund
gerückt worden. Das große Interesse, welches ihm
gegenwärtig die Psychologie entgegenbringt, ist natürlich
nicht ohne Einfluß auch auf Laienkreise geblieben. —
Was ist nun das Wesen des Traumes?
Schilderungen des Traumes als Künstler, als Freigeist,
der jenseits Gut und Böse steht, als Verächter aller Logik
und Folgerichtigkeit sind an der Tagesordnung und in aller
Hand. Daher möge es hier genügen, nur die Kernpunkte
herauszugreifen. Im Traum waltet im Gegensatz zum tagwachen
Bewußtsein, welches der kritische Verstand regiert,
unumschränkt die Phantasie. Für den Traum sind die
Gesetze des Raumes und der Zeit nicht vorhanden. Moral
kennt er nicht. Das Große macht er kleint das Kleine
groß, aus der Mücke den Elefanten. Alles und jedes münzt
er in seiner Weise um. Da er nicht in Worten, sondern
in JBildern spricht, erklärt sich leicht seine Neigung zur
Allegorie. Er arbeitet mit Symbolen, mit Allerweltssymbolen
und solchen, die nur der betreffenden Persönlichkeit angehören
. Er arbeitet mit typischen Träumen, die jedoch
gleichfalls subjektive Unterschiede aufweisen. Dem Kaleidoskop
gleich spiegelt der Traum das buntbewegte Leben
wieder, indem er alle Bausteine aufeinmal durch- und übereinander
wirft. Mit sinnverwirrender Geschwindigkeit
springt er von einem Gegenstand auf einen andern. Besonders
groß ist er als Dramatiker, er verdoppelt und vervielfältigt
unsere Persönlichkeit. Durchgehends zeigt er die
Neigung, alles ins Große, ins Gewaltige zu erheben. Vergessen
wir nicht die Rolle des Traumes als Lügner, indem
er uns Leid als Freude, Lust als Unlust vorführt. Schon
der alte Paracelsus wußte das, wie wir oben gesehen haben.
Auch darin, wie in so vielen, zeigt sich der Traum mit
der Hysterie verwandt. Gleich ihr ist er ein Proteus, der
sich uns in tausend, immer neuen Gestalten vorzustellen
weiß, der uns schreckt und erfreut, beunruhigt und beruhigt,
uns aber stets anderes zu zeigen weiß, als wir erwarten.
Und warum das alles? Weil der Traum in allem und
jedem der Widerpart des tagwachen Bewußtseins ist. Diese
Gegensätzlichkeit läßt uns gar manches verstehen, was uns
beim Traum so seltsam und rätselhaft anmutet.
Haben wir im vorstehenden das Kaleidoskopartige der
Bilder betont, welche uns der Traum in stetem Wechsel,
immer Neues bietend, nie das Vorhergegangene wiederholend
vorführt, und haben wir den dadurch erzeugten
Eindruck des Sprunghaften hervorgehoben, so bedarf dies
doch einer genaueren Erklärung. Das Sprunghafte in den
Traumbildern ist nur ein Scheinbares. Tatsächlich ent-
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