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beeindruckte er mich so lebhaft, daß ich ihn tatsächlich für
Wirklichkeit nahm. Aber ich hütete mich doch, irgend
jemand davon zu erzählen, über welch wunderbare Gabe,
schweben zu können, ich verfüge. Ich fürchtete heinilich,
auf die Probe gestellt, meine Aufgabe doch nicht lösen zu
können. Immerhin dauerte es eine ganze Weile, bis mein
kindlicher Verstand diesbezüglich den Unterschied von
Traum und Wirklichkeit erfaßt hatte. Nebenbei bemerkt,
das einzige Mal in meinem Leben, daß ich einen Traum
für Wirklichkeit genommen habe.
Während der Schwebetraum sich deutlich als Erinnerungsbild
an das Embryonalleben darstellt, hat der Flugtraum
offenbar eine ganz andere Entstehungsart. Amerikanische
Biologen deuten diese atavistisch. Sie führen sie
auf die Zeit zurück, in welcher der menschliche Stammbaum
noch durch das Primatentum lief, als unsere Altväter sich
noch hoch in den Baumwipfeln fröhlich von Ast zu Ast
schwangen und in weiten Luftsprüngen miteinander rivalisierten
. Wieder andere haben die gleichfalls embryologische
Erklärung gegeben, daß es sich bei diesem Traum um eine
atavistische Reminiszenz an das Fischstadium im Laufe
der menschlichen Entwicklung handele. Schwimmbewegungen
statt Flugbewegungen. Ellis bringt den Flugtraum
mit der Respiration in Verbindung. Ich lasse das dahingestellt
. Nach meiner Meinung genügte der Anblick der
„eilenden Wolken4', der „Segler der Lüfte", des jubelnden
Himmelansteigens der trillernden Lerche, des geruhsamen
- Schwebens des Adlers im Aetherblau, des lustig und kokett
von Blume zu Blume flatternden Schmetterlings vollauf,
um im Menschenherzen die unendliche Sehnsucht zu wecken,
auch so frei, so freudig in die luftige Weite hinausschweifen
zu können. Wäre es zuviel gesagt, wenn man behaupten
wollte, so lange der Mensch, festgebannt auf diese Erde,
lebt, hat er auch das Verlangen gespürt, dem Vogel gleich,
sieb in die Lüfte zu erheben? Der Vergangenheit freilich
blieb die Erfüllung dieses Wunsches versagt. Er wurde,
wie so viele Wünsche, zu Wasser. Icafus Icariis nomen
dedit aequis. Icarus lieh den Icarischen Gewässern seinen
Namen. Sein Flug ging zu hoch, an der Sonne warmem
Strahl schmolzen seine Flügel ab, und er fiel ins Meer.
Noch der Schneider von Ulm nahm gleichfalls ein nasses
Ende. Erst unserer Zeit war es vorbehalten, zunächst durch
den Luftballon und sodann in vollkommener Weise durch
Luftfahrzeuge das Luftreich zu erobern und so einem uralten
Menschheitstraum Erfüllung zu bringen. Wer die
Geschichte der Luftschiffahrt studiert, wäre fast versucht,
zu sagen: alle Erfindungen sind nichts anderes als erfüllte
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